SEXUALITÄT UND SPIRITUELLE ENTWICKLUNG

Copyright: Anand Buchwald, eMail: anand@Mirapuri-Enterprises.com


Sexualität und spirituelle Entwicklung sind für viele Menschen aus aller Welt und mit vielen weltanschaulichen Traditionen miteinander unvereinbare Aspekte des Seins und seiner Entfaltung. Die zugehörige Argumentation führt vereinfacht aus, dass die Manifestation eine lineare Angelegenheit ist, die von der dunkelsten Materie über das Leben und die Entwicklung des Geistes hin zum blendendsten Göttlichen führt, und dass die Bemühung des Menschen darin gipfeln müsse, diese Niederungen der Manifestation unter sich zu lassen und sich durch ein Aufgehen im Göttlichen von der Manifestation zu befreien. Noch kürzer formuliert hat Gott die Welt geschaffen, damit wir uns schnellstmöglich von ihr befreien. Spiritualität bedeutet in diesem Zusammenhang die Bemühung um Befreiung, und Sexualität stärkt die Ketten, die uns mit dem evolutionär tiefer gelegenen Tierreich verbinden und ist darum abzulehnen.
Nun gibt es neben dieser mittelalten Weltanschauung auch eine neuere Kosmologie, welche das gleiche Ausgangsmaterial in einem anderen Licht interpretiert: Als Gott, Inbegriff des Ur-Anfangs, die Materie schuf, schuf er sie nicht von oben herab aus dem Nichts, denn außer ihm war nichts – und außer ihm ist auch nichts, wie auch die alten und mittelalten Kosmologien aussagen. Also schuf er die Materie – vielleicht in einer Art Verdichtung – aus sich selbst; sie ist also ein Bestandteil des Göttlichen und steht ihm darin am nächsten. Aus der Materie setzte das Göttliche das Leben frei, und aus dem Leben den Geist. Nach dem Geist kommt als bereits in Arbeit befindliche Entwicklung das Supramentale und danach die Ebenen von Satchitananda, die mit Sein, Bewusstsein und Seligkeit nur äußerst unzureichend umschrieben sind. Diese Ebenen leiten über zum Göttlichen. Und dies ist dann nicht der Endpunkt einer linearen Entwicklung, sondern der Punkt, an dem sich der Kreis der Schöpfung schließt. Dieser Kreis besagt, dass die ganze Schöpfung göttlich ist.
Noch befinden wir uns in diesem göttlichen Kreis an der Schwelle des Übergangs vom mentalen Menschen zum supramentalen Wesen. Das Supramentale ist in der inneren Entwicklung dieses Kreises ein Schlüsselpunkt. In der Mathematik ist die Projektion der Kreisbewegung eine Sinuskurve. Am oberen Umkehrpunkt der Sinuskurve steht das Göttliche. Dann fällt die Kurve ab: Materie, Leben Geist. Der untere Umkehrpunkt ist das Supramentale. Von da an geht es wieder aufwärts: Sat, Chit, Ananda. So gesehen ist der Mensch als mentales Wesen weiter von Gott entfernt als das Tier. Die Entwicklung des mentalen Wesens kam dem biblischen Sündenfall gleich. Das stetig zunehmende Bewusstsein seit Beginn der Schöpfung hat uns ebenso stetig – zumindest dem äußeren Anschein nach – vom göttlichen Ursprung entfernt. Es hat jetzt jene kritische Masse erreicht, die uns befähigt, vom nicht- und unbewussten Gott-sein den Schritt in die bewusste Gotterkenntnis zu tun und ihm bewusst zuzustreben.
Ein großer Unterschied dieser Kosmologie zu älteren liegt darin, dass hier letztlich alles göttlich ist, wenn auch bisweilen verborgen, während in den linearen Kosmologien die materielle Welt mit all ihren Erscheinungsformen als wertlose Schlacke zurückbleibt, wenn alle vernunftbegabten Wesen den Weg zurück zum Göttlichen gefunden haben.
Und wie sieht die Welt in der Zukunft der zirkulären Kosmologie aus? Hier kehrt die Welt zum Schöpfer zurück, um den Zyklus von neuem zu starten, was eigentlich der zirkulären Kosmologie einen spiralförmigen Aspekt hinzufügt. Man kann dies natürlich als Spiel des Göttlichen betrachten, aber vielleicht hat das Spiel einen Hintergrund, ein Ergebnis. Alles kommt aus dem Göttlichen und kehrt zu ihm zurück. Alles ist göttlich. Die Bewegung findet eigentlich nur in der Qualität des Ausdrucks des Göttlichen statt. Fast keine offenbare Göttlichkeit in der Materie entwickelt sich zum direkten Ausdruck des Göttlichen.
Aber wenn wir uns die bisherige Entwicklung betrachten, sehen wir, dass es eine nahezu unendliche Menge an unbelebter Materie gibt, aus der sich eine kleine Menge belebter Materie abgespalten hat, aus der wiederum eine kleine Menge geisteshaltiger Wesen hervorgegangen ist. Wenn wir diese Entwicklung hochrechnen, resultiert die kosmische Evolution wahrscheinlich in einem einzigen Wesen, das alle ihre Stufen erklommen hat, was aber letztlich eine lineare oder eher pyramidenförmige Kosmologie bedeuten würde.
Die zirkuläre Kosmologie sieht das aber eigentlich anders. Die bisherige Evolution diente dazu, die Entwicklung bis zur Schwelle des Supramentalen voranzutreiben. Erst ab dieser Schwelle, mit dem Erreichen der kritischen Bewusstseinsmasse, kann sich dieses Muster ändern. Das Bewusstsein kann sich jetzt frei nach vorne dem Göttlichen zuwenden. Aber gleichzeitig ist auch das, was hinter ihm liegt göttlich, wenn auch noch unterschwellig im Bewusstsein. Um Gott in seiner Ganzheit entdecken zu können, muss das Bewusstsein von nun an in beide Richtungen voranschreiten: Es muss das zukünftige und das vergangene Göttliche hervorbringen oder herausarbeiten, denn im Kreis gehören beide zur göttlichen Gegenwart. Man muss also, nicht nur intellektuell, das Göttliche in Materie, Leben und Geist enthüllen, oder in einer aktuelleren, etwas irreführenden Formulierung das Göttliche in die unteren Ebenen des Seins bringen. Und das ist der grundlegendste Unterschied zur linearen „Nach mir die Sintflut“-Kosmologie.
Soweit die kurze Erläuterung der beiden Haupt-Kosmologien: Die lineare Kosmologie steht für eine Negierung von Materie und Leben und die Flucht nach vorne in ins Göttliche; und die zirkuläre Kosmologie steht für ein „Herabbringen“ des Göttlichen ins manifeste Universum.
Entsprechend unterschiedlich ist die Auffassung von Spiritualität: In der linearen Kosmologie ist alles spirituell, was direkt zum Göttlichen und zur Befreiung von allem Irdischen führt. Was an das Dasein bindet, z.B. Geld, Sex, Hunger... ist antispirituell, und alles dazwischen ist bedeutungslos und muss so gut wie möglich ertragen werden.
Auch für die zirkuläre Kosmologie ist alles spirituell was näher zum Göttlichen führt. Aber es gibt keine Dinge, die absolut antispirituell sind. Zwar gibt es Dinge, die vom Göttlichen wegführen, aber nichts ist letztlich in der Lage, uns dauerhaft vom Göttlichen abzubringen. Die Bewältigung dieser Dinge bringt uns statt dessen dem Göttlichen näher. Auch liegt das spirituelle Element nicht in den Dingen, sondern im Menschen. Da alles Teil des Göttlichen ist, ist die Spiritualität der Schlüssel des Menschen, das Göttliche in den Dingen zu finden und herauszuarbeiten. Wenn uns eine Sache vom Streben nach dem Göttlichen abhält, dann ist nicht die Sache Schuld und verdammenswert, sondern unser Bewusstsein ist noch nicht weit genug entwickelt.
Die verschiedenen Kosmologien führen natürlich auch zu verschiedenen Lebensentwürfen. Die lineare Version führt in der Extremform zum Rückzug in eine abgelegene Himalaya-Höhle, aber standardmäßig wohl eher in einen Ashram oder ein Kloster, wo man äußere Ablenkungen deutlich reduzieren kann. Die zirkuläre Version bringt im äußersten Fall eine fast anarchische Lebensweise ohne Regeln hervor, den absoluten Individualisten. Üblicherweise wird aber die Tendenz zum Zusammenschluss kleiner Gruppen Gleichgesinnter oder zur Bildung von freien Gemeinschaften führen, in denen man ebenso wie in einem Ashram ein spezifisches, zielgerichtet entwicklungsförderndes Bewusstseinsfeld schaffen kann.
In der Praxis wird es aber kaum reine Typen geben. Die Mehrzahl der spirituell Suchenden wird sich irgendwo zwischen den Schwerpunkten Ashram und Gemeinschaft sehen und sich in ihrem Umgang mit der Sexualität zwischen eigenen Wünschen und Träumen und der dominanten Einstellung, die aus der linearen Kosmologie kommt, in einer Zwickmühle wiederfinden.
Der Bereich des Spirituellen ist zwar seiner Natur nach progressiv, wachstums- und zukunftsorientiert, aber in der Praxis heutzutage mehr von Traditionen geprägt als irgendein anderes Gebiet des menschlichen Lebens und auch mehr als in früheren Zeiten. So gelten etwa die Rishis aus der vedischen Zeit fast als Inbegriff der Weisheit. Diese Rishis aus alter Zeit hatten aber mit der Sexualität wohl weniger Probleme als wir heute, denn den alten Schriften nach waren sie z. T. verheiratet. Die Unvereinbarkeit von Leben und Spiritualität tauchte also erst später auf. Das hatte z.T. philosophische Ursachen, z.T. aber auch praktische. Bei den alten Rishis kann man davon ausgehen, dass sie in das Lebensgefüge ihrer Zeit integriert waren. Erst später scheint eine Art Polarisierung stattgefunden zu haben. Das spirituelle Leben sonderte sich vom gewöhnlichen Leben ab. Es entstand wohl eine Art Tauschhandel: Die Menschen, die sich zum spirituellen Leben hingezogen fühlten, wurden im Großen und Ganzen von der Sorge um den Lebensunterhalt befreit und lieferten dafür spirituelle Nahrung, Segen oder machten die Götter gewogen. Im Laufe der Zeit wurde das System institutionalisiert und die Ashrams entstanden.
Was in diesen Tauschhandel nicht hineinpasste, war die Möglichkeit, sich dem Arbeitsleben zu entziehen, aber trotzdem die üblichen Freuden des Lebens zu genießen. So muss letztlich eine Art gesellschaftlicher Abmachung zustande gekommen sein, die den Aussteigern Enthaltsamkeit und ein nur dem fernen Gott zugewandtes Leben abverlangten. Und dieses Tauschgeschäft blieb bis heute erhalten und wurde auch vom organisierten Christentum übernommen, das mit der Stilisierung „Sex ist Böse“ ein repressives Machtmittel in Europa und nachfolgend in allen missionierten Ländern einführte und so auch gleichzeitig das Ende von Unschuld und unbefangener Lebensfreude einleitete, quasi ein zweite Vertreibung aus dem Paradies. Und an der dritten Vertreibung arbeitet die Menschheit bereits mit Feuereifer: der Unbewohnbarmachung des Planeten.
Im Zuge der Formierung der Ashram-Idee hat sich natürlich auch ein Gedankengebäude entwickelt, das den entwicklungsphilosophischen Hintergrund einer klösterlichen Weltanschauung bildet. Die zugrundeliegenden Gedankengänge dienen zwar der Rechtfertigung dieser exotischen Lebensweise, aber sie sind letztlich keine reine Fiktion. Mag manche dieser alten Argumentationen, die viele Sucher heute ehrfürchtig in ihr Repertoire übernehmen auch etwas an den Haaren herbeigezogen sein, so gibt es doch meist einen wahren Kern in ihnen, der auch andere Interpretationen zulässt.
Etwas schwer tut man sich in diesem Zusammenhang mit der Ojas-Retas-Geschichte. Retas bedeutet Samenflüssigkeit und Ojas bedeutet Energie. Die Geschichte geht so, dass durch Brahmacarya der Samen in Energie umgewandelt wird, die für den spirituellen Aufstieg Verwendung finden kann. Das mag sein oder auch nicht. Aber es lohnt sich doch, die Angelegenheit näher zu betrachten.
Da haben wir zuerst einmal Brahmacarya – die Enthaltsamkeit. Enthaltsamkeit ist ein weites, unscharfes Wort. Es wird in der Regel so interpretiert, dass man sich des Sex enthält, und in der nächsten Stufe auch der Selbst-Befriedigung. Wenn man sich dem Kern des Begriffs nähert, dann bedeutet er Enthaltsamkeit auch im Traum, in den Regungen und in der Gefühls- und Gedankenwelt. Eine mechanistische Interpretation führt zu Verdrängung. Und das ist es, was die meisten Propheten der Spiritualität predigen, oder was ihre Anhänger verstehen. Doch Brahmacarya ist kein äußerer Prozess. Die Beobachtung hat gezeigt, dass die Menschen, die sexuell abstinent leben, weil sie glauben, dass das eine Voraussetzung für ein spirituelles Leben sei oder weil ihr Beruf als Priester sie dazu zwingt, und die Menschen, die der Sexualität aus dem Weg gehen, weil sie aus religiösen Gründen glauben, dass Sexualität etwas Schlechtes ist, in der Regel mehr oder weniger ausgeprägte Neurotiker sind, die es meist auch nicht mitansehen können, wenn andere Menschen Freude am Sex haben, und dabei vergessen, dass Gleichmut, Verständnis und Toleranz zu den Fundamenten gehören, auf denen wahre Spiritualität erst wachsen kann. Neurosen sind darum alles andere als eine Hilfe beim spirituellen Fortschritt. Darum ist es für Brahmacarya unerlässlich, dass man seine Sexualität und seine Bedürfnisse kennt, statt sie in der Rolle des Kaninchens als angriffslüsterne Schlange hypnotisch wahrzunehmen. Um sich mit seiner Sexualität auseinanderzusetzen, braucht man einen klaren Blick. Wenn man Angst hat, verengt und verschleiert sich das Blickfeld und man ist verloren. Das Gebiet von Spiritualität und Sexualität ist voller Fallstricke, und Angst und Unwissen sind die ersten davon, die die spirituelle Entwicklung hemmen oder ganz verhindern.
In einem dem Spirituellen geweihten Leben ist die Sexualität das Gebiet, das am Schwierigsten zu beherrschen ist. Wer Brahmacarya in der populären Interpretation als Einstieg in die Spiritualität nimmt, hat darum eine harte Arbeit vor sich und wird erst spät Fortschritte sehen, denn er wird den größten Teil seiner Energie der Beschäftigung mit dem Sex widmen müssen, denn das eigentliche Wesen dieser Art Brahmacarya ist die Meisterung der Sexualität, die Befreiung von sexuellen Regungen und die Umwandlung der aus der Sexualität stammenden Energie in für den Fortschritt frei verfügbare Energie.
Es geht also bei der Umwandlung von Retas in Ojas vor allem um prinzipielle Energien und das Energiegefüge, das mit der Sexualität an sich zusammenhängt. Denn die Energie, die im physischen Samen steckt ist minimal und durch einen Snack schnell wieder aufgefüllt. Die Umwandlung der Energie des Samens kostet wahrscheinlich mehr Energie als er bringt.
Wenn man aber Brahmacarya weniger mechanistisch und weniger engergietechnisch interpretiert, dann offenbart sich ein Kern, der weniger explosiv, dadurch aber nicht weniger potent ist. Das Wesen dieses Kerns ist nicht Zurückweisung und Vermeidung, also Konflikt, sondern das Nicht-Berührt-Werden, das aus der Erkenntnis der eigenen tieferen Natur entspringt und aus einem über den Dingen stehenden Seinszustand. Man sieht die Dinge wie sie sind, nicht wie sie nicht sind, wie sie scheinen oder wie man sie haben möchte. Man nimmt sie an oder nicht, aber man wird von ihnen nicht bewegt. Dieses Prinzip zeigt sich in der Lotosblume, die nicht schmutzig werden kann und auch in der mystischen Jungfräulichkeit des Christentums. Hat man diese Unberührtheit (Brahmacarya) erreicht, dann fließen die Energien, die unser vielfältiges Sein zur Verfügung stellt (Retas), nicht mehr ungesteuert nach außen, sondern werden zielgerichtet darauf verwandt (Ojas), näher zum Göttlichen zu gelangen. Das ist dann die natürliche Umwandlung der Energiesystems, die sanfte Art.
Die Art des Umgangs mit den komplexen energetischen Zusammenhängen im Menschen durch die traditionelle Kosmologie ist freilich weniger zartfühlend und darum auch riskanter.
Der Mensch ist aus dem Tier hervorgegangen. Was ihn von diesem unterscheidet ist ein mehr oder weniger entwickeltes Mentalwesen und ein etwas bewussterer seelischer Kern. In der linearen Kosmologie bestimmt dieser Trennpunkt, dieser Unterschied das spirituelle Leben: Das, was uns vom Tier unterscheidet wird gefördert, der Rest unterdrückt. Dieser Unterschied findet zwar auch in der zirkulären Kosmologie Beachtung, aber die Zusammenhänge mit und die Abhängigkeiten von unserem tierischen Erbe werden stärker berücksichtigt, der Mensch mehr als Ganzes betrachtet. So ist die Sexualität nicht nur in das Energiegeflecht des Körpers und des Instinktwesens eingebettet, sondern hat über diese Verflechtung Auswirkung auf das gesamte Wesen. Diese Verflochtenheit ist mit ein Grund für die starke Ablehnung von Sexualität seitens der linearen Kosmologie. Eine Abtötung der Sexualität oder eine Umwandlung des sexuellen Enegiesystems in ein höheres System, das wie ein Filter zwischen den tierischen und menschlichen Anteilen stünde, würden die Abtrennung und stärkere Weiterentwicklung der höheren Wesensteile fördern.
Doch wird bei diesem Bemühen, besonders wenn ein wirklicher Überblick und eine erfahrene Anleitung fehlen, das Energiegefüge aus dem Gleichgewicht gebracht – mit zum Teil heftigen bis unerwarteten Folgen.
Die Sexualität ist eines der wesentlichen Elemente des Vitalen. Dieses ist zuständig für Begeisterung, Freude, Ausdauer, Beharrlichkeit. Für den gewöhnlichen Sterblichen, der nicht als weit fortgeschrittenes Wesen das Licht dieser Welt erblickt hat, sind diese Eigenschaften notwendig, um überhaupt den Versuch zu unternehmen, nach Höherem zu streben. Der eigentliche Anstoß dazu kommt aber meist von innen, von der Seele, oder von oben. Und wenn man sich an eine Verwirklichung macht, sei sie materieller oder spiritueller Natur, dann kommt man mit diesen Eigenschaften am schnellsten und befriedigendsten voran.
Bei dem Versuch, das vitale Energiesystem mit Brachialgewalt zu reformieren oder gar abzukappen bleibt meist auch die Energie für den Fortschritt auf der Strecke. Man wird lustlos und der Wille zum Fortschritt schwächt sich ab. Die Lebensfreude schwindet, man bekommt Depressionen und fragt sich, ob das Ergebnis den Aufwand wert sein wird. Und dann hört man auf und nimmt mit schlechtem Gewissen sein altes Leben wieder auf, und um das schlechte Gewissen zu beruhigen beschäftigt man sich mit einer Scheinspiritualität, was auch die Leute machen, die zwar einen vagen Ruf verspüren, aber in sich nicht genügend Klarheit haben, um dem Ruf zielstrebig folgen zu können.
Bei der Frage nach der Umwandlung des Energiesystems gibt es noch ein ganz anderes Extrem der Lösungssuche. Es ist der Versuch, Sex als Yoga zu betreiben. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Man kann aus allem einen Yoga machen, wie schon die Zen-Meister mit Ikebana, der Tee-Zeremonie und der Kunst des Bogenschießens vorgemacht haben. Und gewiss sollte man alle Teile des Lebens aufgreifen und in den Yoga seines Lebens zu integrieren suchen. Aber dies ist ein Bereich, in dem man mehr als in jedem anderen auf der Hut sein muss. Er verlangt eine absolute, uneingeschränkte Aufmerksamkeit und Aufrichtigkeit und ein Eintauchen in die eigenen Seelentiefen, um jedes noch so versteckte und verkleidete Begehren als solches zu erkennen und nicht unter dem Mantel des Yoga zum Sklaven des Verlangens zu werden. So gibt es im Tantra-Yoga einen unbedeutenden Seitenpfad oder Aspekt, der sich im Äußerlichen mit verschiedenen Aspekten der Sexualität befasst. Als der Tantra im Westen ein wenig bekannter wurde, stürzte sich alle Welt auf diesen Seitenpfad und manch einer fühlte sich plötzlich zum Sex-Guru berufen. Mittlerweile denkt fast jeder, wenn das Wort Tantra fällt, an ausgefallene und sinnlichkeitssteigernde Sex-Techniken, aber nicht an Yoga und nicht an das, wofür der Tantra Yoga eigentlich steht: Das Aufgreifen der Natur und das Hervorbringen dessen, was hinter ihr steht, sozusagen eine Umwandlung der Natur.
Eine weitere Sache, die im Umfeld der Ashram-Genese sehr populär wurde ist die Ansicht, dass Sex den Menschen in der Materie und der Tiernatur gefangen hält und ihn daran hindert, sich ganz dem Göttlichen zu geben und in der Folge das Göttliche zu erreichen. Auch dieser Gedankengang zeigt deutliche Züge der linearen Kosmologie, die unvereinbare Polarität von Materie und Gott, die es eigentlich auch nach der Begriffswelt der linearen Kosmologie nicht geben dürfte, denn auf dem Weg zu Gott wartet die Erfahrung von der Aufhebung der Dualität und Polarität in der Einheit. Gott als nicht-duale, über-polare Entität kann nicht Teil einer Polarisierung sein.
Aber trotzdem enthält auch dieser Gedankengang eine Wahrheit. Von der Evolution her ist die Sexualität eindeutig tierischen Ursprungs. Sex beim Tier ist ein Instinkt, der tendenziell, wenn auch nicht unumschränkt der Fortpflanzung dient und seiner Natur nach eher imperativ ist, das heißt, das Tier kann sich kaum wehren, darüber reflektieren und keine Willensentscheidung treffen. Es ist ein Sklave seiner Natur, auch wenn neuere Erkenntnisse den Schluss nahelegen, dass diese Sklaverei nicht so vereinfachend mechanistisch ist, wie es die Evolutionstheorie darstellt. Es gibt da einen viel weiteren Verhaltensspielraum, als gemeinhin angenommen wird. Inwieweit es aber beim Sex Freude empfindet und sich um diese Empfindung bemüht, kann nicht so ohne weiteres ergründet werden und mag dahingestellt bleiben.
Bei der Genese des Menschen waren die Entwicklung des aufrechten Gangs und die beginnende Ausformung eines Mentalwesens nicht die einzigen Unterschiede, deren Herausbildung die Abtrennung vom reinen Tierwesen einleiteten. Zusammen mit dem Mentalen kam es auch zur Bildung eines ersten Ichbewusstseins und damit zum Entstehen einer Dualität vom Ich und vom Körper mit all seinen Empfindungen und Lebensprozessen. Im Verlauf dieser Veränderungen wurden aus instinktiven Reaktionen Empfindungen wie Erwartung, Angst, Freude... Damit entkoppelten sich zunehmend biologische Vorgänge von Instinkten. Und während die Instinkte zunehmend unter der Oberfläche verschwanden, bildeten sich neue Bezüge. Die Wahrnehmung der Freude bei der Berührung eines anderen und der Lust beim Orgasmus lösten die Sexualität vom Fortpflanzungsinstinkt und verbanden sie mit Lust und Freude. (So gesehen versuchen die Naturphilosophen und religiös-kirchlichen Eiferer, die predigen, dass der Sex nur für die Fortpflanzung da sei, den Menschen zu seinen tierischen Wurzeln zurückzubringen, also eine Regression, eine Entmenschlichung einzuleiten.) Aber genaugenommen ist der Mensch nicht das einzige Wesen, beim dem Sex zu mehr als zur Fortpflanzung dient. Wie bereits angedeutet, ist die Natur nicht so engstirnig, wie behauptet. So hat Sex beim Schimpansen auch eine eindeutig soziale Funktion; er besänftigt und fördert den Zusammenhalt der Gruppe.
Gehen wir nun kurz einen Schritt zurück. In der zirkulären Kosmologie hat das Göttliche die materielle Manifestation aus sich selbst hervorgebracht und sich dabei gleichzeitig in sie eingebracht, ja sich selbst materialisiert. Es ist also unabhängig von offenkundigen Entwicklungsstufen immer und überall immanent gegenwärtig, wenn auch meist nicht ohne weiteres erkennbar. Die Evolution ist so gesehen eine progressive Offenbarung oder Enthüllung des immanenten Göttlichen. In Bezug auf die Sexualität gibt es also eine Entwicklung, die in einer oberflächlich gesehen toten Materie ihren Ausgang nahm und in der Kreisbewegung direkt zum Göttlichen in einem seiner Aspekte führt. Jeder Aspekt des Daseins führt so zu einem Aspekt des Göttlichen, zu einer einzigartigen Möglichkeit, das Göttliche wahrzunehmen, die Evolution als Ganzes somit zur Erfahrung des umfassenden Göttlichen in all seinen Aspekten. Wenn man sich das Göttliche als Kugel vorstellt, führt das, was wir in der gegenwärtigen evolutionären Entwicklungsstufe als Sexualität kennen, zu einem bestimmten Punkt auf der Landkarte der Göttlichen Kugel. Viele verschiedene Aspekte führen zu vielen verschiedenen Annäherungen an das Göttliche und zu umfassenderer Wahrnehmung und Identifikation, zu einem besseren Kennenlernen des Göttlichen Landes. Auch die Methode der linearen Kosmologie führt zur Erfahrung des Göttlichen, aber nur in einem Punkt, weil sie auch nur auf einen Punkt hingearbeitet hat. Aber in diesem Punkt ist die Identifikation mit dem Göttlichen vollkommen, wie es auch bei jedem anderen Punkt der Fall ist.
Einer dieser vielen Punkte, die sich aus dem Göttlichen ergeben hatten und zu ihm zurückführen, wurde zuerst in der Tierwelt mit der Fortpflanzung sichtbar. Beim Menschen hat sich der sexuelle Akt in zwei Teile aufgespalten: die biologisch-materielle Komponente der Fortpflanzung und die Empfindung schöpferischer Freude. Aus dieser Wahrnehmung der Freude ist der Wunsch nach mehr Freude entstanden, die Suche nach dem Glücklichsein und letztlich die Suche nach dem Urquell des Glücks: dem Göttlichen.
Als einer der Wege dazu hat sich mit zunehmender Bewusstwerdung die lineare Kosmologie etabliert. Die Technik, der sie dabei folgt, setzt auf Kontrast und Konfrontation, um das jeweilige Ziel (Nirvana, Befreiung, Erleuchtung, göttliche Ekstase, das Bewusstsein der Göttlichen Gegenwart...) zu erreichen. Alles, was nicht unmittelbar und zielgerichtet für den Aufstieg verwendet werden kann, wird abgelehnt, zurückgewiesen, bekämpft oder ignoriert. Gleichzeitig werden alle Elemente, die beim Aufstieg hilfreich sein können, gefördert und das Bewusstsein exklusiv nach oben gerichtet. Auf diese Weise entsteht ein Ungleichgewicht im Wesen. Das Geistige wird überbetont, während das Physische verkümmert. Bildlich gesprochen ist das so, als ob man in einem Heißluftballon kräftig einheizt und gleichzeitig Ballast abwirft. Wenn man dann die Leinen durchtrennt, die einen am Boden halten, rast man förmlich gen Himmel. Dem außenstehenden Beobachter drängt sich freilich ein anderes Bild auf: Ein Mensch mit verkümmerten Beinen und dem Kopf in den Wolken, der versucht, ins Göttliche zu stolpern, und der wegen seines Ungleichgewichts immer wieder vom Weg abkommt, oder gar im Kreis läuft.
Doch während man bereit ist, nach dem Sintflut-Prinzip alles hinter sich zu lassen, folgt die zirkuläre Kosmologie, deren Intention sich am Ablauf der Evolution orientiert, anderen Wegen.
Sexualität ist ein Ausdruck des Göttlichen, wie auch das Bedürfnis nach Schlaf, Essen und Sauerstoff. Diese Dinge sind mit der physisch-vitalen Natur unseres tiergeborenen Daseins verbunden. Mit der Vollendung der nächsten Evolutionsstufe oder, je nach Standpunkt, dem Abschluss der eigentlichen menschlichen Evolution werden diese Dinge im Zukunftsmenschen verschwinden bzw. einen neuen Ausdruck finden, der das Göttliche weniger verhüllt. Der Endpunkt der Entwicklung dieses Aspekts wird dann im Ananda liegen, der höchsten, ursächlichsten göttlichen Wonne.
Der Weg dahin ist in der zirkulären Kosmologie langsam. Es geht hier nicht im Geschwindigkeit, es geht nicht darum, das Ziel irgendwie zu erreichen, es geht um Qualität. Wenn es dem Göttlichen um Weltflucht gegangen wäre, hätte es sich die Schöpfung sparen können. Die Schöpfung in Verbindung mit dem Göttlichen macht nur Sinn, wenn sie sich weiter entfalten kann. Also muss man alles aufgreifen und sehen, was man daraus machen kann.
Nun kann man natürlich nicht auf allen Feldern gleichzeitig arbeiten, aber man kann mit einem anfangen, das einem mehr liegt und sich dann dem widmen, das als nächstes Aufmerksamkeit verlangt. Auf diese Weise kann man alles durchackern und stellt irgendwann fest, dass auf dem ersten Feld wieder Arbeit wartet. Hat man es vernachlässigt, wird man wieder von Vorne anfangen. Es kann aber auch sein, dass man plötzlich Dinge entdeckt, die wahrzunehmen man erst auf einem der nachfolgenden Felder gelernt hat.
Das ist eine Bewegung wie von Wellen. Das ist die Bewegung der Natur. In der linearen Kosmologie stemmt man sich gegen die Wellen und zahlt seinen Preis dafür. Die Mehrzahl aller Menschen aber schwimmt passiv mit dem Strom und hüpft wie ein Korken auf den Wellen mit der Bewegung der Natur auf und ab. Benutzt man aber die Möglichkeiten, die das Dasein bietet oder aufdrängt als Sprungbrett, um weiterzukommen, dann macht man die Bewegung der Wellen mit, aber man nutzt die Aufwärtsbewegung, um noch ein wenig höher zu gelangen und versucht, das Erreichte in der Abwärtsbewegung mitzunehmen und Schwung für den nächsten Aufschwung zu sammeln. Ein Abstieg ist hier keine Niederlage, sondern der Beginn einer neuen Chance. Zwar macht man die Wellenbewegung weiterhin mit, aber mit der Kraft der Bemühung hebt man langsam, vielleicht unmerklich, das Grundniveau der Wellen an – und eines Tages wird man erstaunt feststellen, dass der Tiefstpunkt höher liegt, als früher die Höhen reichten.
Darum bedeutet Mitschwingen also keinesfalls, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Wenn man auf einer Schaukel den Dingen ihren Lauf lässt, dann führt der anfängliche Bewegungsimpuls letztlich sehr schnell in die Stagnation. Wenn man dagegen bewusst ihre Möglichkeiten nutzt, gelangt man schnell zu neuen Höhen und kann sein gegenwärtiges Potential voll ausschöpfen. Es ist also eine Kenntnis der wirksamen Mechanismen nötig und der Einsatz des Bewusstseins.
Und darum sieht die Alternative zur linearen Kosmologie beim Umgang mit Sex nicht so aus, dass man alles laufen lässt, wie das vereinfacht im gewöhnlichen, nicht spirituell orientiertem Leben aussieht, sondern dass man sich um bewusste Kenntniss aller sexuellen Zusammenhänge und Phänomene und ihrer Auswirkungen bemüht, und darauf aufbauend versucht, mit sinnvollen Änderungen, Bewusstwerdungsprozessen und Bewusstseinswachstum das Niveau der nahezu unvermeidlichen Wellenbewegung anzuheben und Natur und Ausdruck der Sexualität von überholten Elementen zu befreien und ein wenig mehr dem anzunähern, was die ursprüngliche göttliche Intention war und wie es in ferner Zukunft einem vom Göttlichen geprägten Wesen angemessen sein wird.
Das mag bei Manchen schnell gehen, bei Anderen langsam, denn die Menschen sind trotz offizieller politischer Gleichheit und ihrem göttlichen Kern sehr unterschiedlich in ihrem Wesen. So ist Sexualität für den Einen eine Sache, die schnell am Rande abgehakt wird und für den Anderen fast das zentrale Thema seiner Existenz, ganz unabhängig von der Intensität spiritueller Bemühung. Das bedeutet, dass Spiritualität eine sehr individuelle Angelegenheit ist, die an jeden andere Anforderungen stellt und jeden auf einen anderen Weg führt. Darum ist es sehr schwierig, den Pfad eines anderen Suchers zu kommentieren oder gar zu beurteilen, und wenn man nicht schon sehr weit auf dem Pfad fortgeschritten ist, ist es gänzlich unmöglich, etwas über den Pfad eines bewussten Suchers zu sagen. Und so kann man auf einen spirituell Suchenden auch nicht die moralisierenden Regeln der Gesellschaft und der institutionalisierten Spiritualität des linearen Pfades anwenden.
Das heißt aber nicht, dass deren Einsichten, Regeln und Erkenntnisse wert- und bedeutungslos sind. Betrachtet man die Gesellschaft, so diente Moral (trotz aller auch heute noch vorhandenen mittelalterlichen Auswüchse) dazu, dem Menschen durch einen äußeren Zwang eine Hilfestellung in seiner evolutiven Entwicklung zu geben, indem sie ihm half, die Impulse, die aus der menschlichen Tiernatur kamen, in Zaum zu halten, bis das Bewusstsein weit genug entwickelt ist, dass es selbst fähig ist, diese Arbeit zu tun. Dieser Zeitpunkt rückt immer näher, und immer mehr Menschen stellen sich gegen überkommene Moralvorstellungen.
Und auch der spirituell sich bemühende Mensch muss versuchen, herauszufinden, welcher nützliche Kern in manchen Regeln und Verboten darauf wartet, relativiert und aktualisiert zu werden.
Der Tenor dieser Regeln im spirituellen Bereich geht dahin, dass Sex die Dunkelheit im Bewusstsein mehrt und das Tier im Menschen stärkt.
Das stimmt, und stimmt doch wiederum auch nicht. Sex kann zweifelsohne diese Wirkung haben. Aber die Aussage an sich ist sehr pauschal. Sie ist wohl hilfreich, wenn es darum geht, alles hinter sich zu lassen und sich nur auf ein singuläres Ziel zu konzentrieren, aber für den modernen Menschen, der seine Individualität entfalten und seinen eigenen Weg gehen möchte, ist der egalitäre Rundumschlag eine Hindernis. Er möchte über die Zusammenhänge Bescheid wissen.
Mit der Dunkelheit ist es so, dass sie eine relative Sache ist. Das Bewusstsein eines Steinzeitmenschen war für einen Menschen der Antike vielleicht dunkel. Das Bewusstsein eines mittelalterlichen Menschen war dunkel im Vergleich zum modernen Menschen. Das Bewusstsein eines Inquisitors war sicher dunkler als das eines Menschen, der von der Inquisition nichts wusste und von Gewalt und Hass unberührt blieb.
Das Bewusstsein des Menschen ist trotz kontinuierlichen Sex stetig – wenn auch mit Rückschlägen – heller geworden. In diesem Zusammenhang kann man sich an ein Gedankenspiel wagen: Was würde passieren, wenn die Steinzeitmenschen plötzlich den Sex aus ihrem Leben gestrichen hätten? Nun, statt eine Bewusstseinsblüte zu erleben, hätten sie sich wohl gegenseitig die Köpfe eingeschlagen, und wir müssten uns nicht mit dem Sex beschäftigen, weil es uns nämlich nicht gäbe, sei es wegen des Massakers oder wegen ausbleibender Geburten.
Dieses Gedankenspiel mag etwas polemisch klingen, aber es verdeutlicht doch einen wesentlichen Punkt: Bewusstseinswachstum und -helligkeit ist keine mechanische Sache nach dem Motto: Weniger Sex = mehr Bewusstsein. Für das Bewusstsein muss man aktiv etwas tun. Enthaltsamkeit für sich allein bringt nicht mehr Bewusstsein, allenfalls mindert sie in ihrer obsessiven Form seine Entfaltung.
Bewusstsein ist etwas, das man entfaltet, ausweitet, zum Licht öffnet. Wenn eine Sache dunkel ist, bedeutet das, dass das Bewusstsein in ihr schwächer ausgeprägt ist als in den Bereichen, die in der Lage sind, diese Dunkelheit wahrzunehmen.
In den letzten Jahrtausenden gab es eine gewisse Kultur des Bewusstseinswachstums. Diese Kultur hat vor allem die leicht zugänglichen einfacheren Bereiche aufgegriffen und gefördert. Manche Bereiche sind aber ignoriert worden oder verdrängt. So heißt es auch vom Essen, dass es das Bewusstsein dunkel macht und die Tiernatur fördert. Deshalb gehört auch Fasten und reduzierte Nahrungsaufnahme zur linearen Kosmologie. Aber niemand verlangt, das Essen ganz einzustellen, weil man dabei bislang einfach verhungern würde. Stattdessen hat man sich mit der Wirkung der Nahrung auseinandergesetzt und Wege erkundet (= Bewusstsein geschaffen), um die Nahrungsaufnahme bewusster und verträglicher zu gestalten. Aber auch hier ist es so, dass ein sich spirituell frei entwickelnder Mensch nicht unbedingt von den sich daraus entwickelnden, pauschalisierenden Regeln profitiert. Er wird hingegen in seiner Entwicklung feststellen, ob eine Sache ihm schadet und seine Ernährung frei von Regeln so umstellen, dass sie ihn nicht weiter behindert – so oft neue Erkenntnisse dies erforderlich machen.
Aber eine allgemeine Kultur- und Bewusstseinsentwicklung, wie sie ansatzweise bei der Ernährung stattfand, ist bei der Sexualität unterblieben. Nun kann man im Prozess der Bewusstwerdung Dinge beiseiteschieben, wenn die Zeit dafür noch nicht reif ist, andere Dinge wichtiger sind, oder man der Sache noch nicht gewachsen ist. Dies gilt sowohl individuell wie auch kollektiv. Aber man kann das nicht ewig so machen. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo man auch in dieses Dunkel Licht bringen muss. Pauschal zu sagen, das Sex dunkel mache, zementiert die Dunkelheit. Statt dessen müsste eine Sex-Kultur entwickelt werden, die die Dinge an ihren Platz stellt und mit Tabuisierung, Hysterie, Schuldgefühlen und Unbewusstheit, die allesamt Ausdruck von Dunkelheit sind, Schluss macht. Dann kann man auch daran gehen, die höheren Ausprägungen der Sexualität, die seit der Schöpfung in der Materie immanent sind, freizulegen, und im Zukunftsmenschen zur Entfaltung zu bringen.
Bewusstwerdung ist ein vielfältiger Prozess, der das ganze Leben andauern muss. Praktisch bedeutet das, dass man sich selbst beobachtet und andere. Man spricht mit anderen, liest Erzählungen, Berichte, Forschungsergebnisse, sieht Filme... Es ist ein Prozess der Meditation und auch der Identifikation. Dazu gehört selbstverständlich auch ausprobieren, experimentieren, variieren und erforschen der verdrängten Tiefen. Wenn man Sexualität wirklich beurteilen und vielleicht ein wenig verstehen möchte, sollte man zumindest eine Ahnung von ihrer Bandbreite haben. Um die Auswirkungen zu studieren, die bei jedem Menschen anders ausfallen werden, kann man sich ja mal wiederholt für einen Zeitraum von mehreren Wochen oder mehreren Monaten bemühen, sich jeglicher sexuellen Regung zu enthalten und beobachten, was geschieht. Und dann beobachtet man, was erneute sexuelle Betätigung (dazu zählt natürlich auch die Selbstbefriedigung) bewirkt. Wenn man das mit der nötigen Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit macht, hat man die Möglichkeit, herauszufinden, welchen Stellenwert die Sexualität im gegenwärtigen Stadium der eigenen Bewusstseinsentwicklung hat. Wer merkt, das Sex eine stark negative Wirkung auf die eigene Bewusstseinsentfaltung hat und diese das wichtigste Lebensziel ist, wird leichten Herzens darauf verzichten. Wo keine Auswirkungen festzustellen sind, stehen wahrscheinlich andere Themen im Vordergrund. Alle übrigen werden immer wieder neu ihre Prioritäten setzen und sich um eine angemessene Stellung der Sexualität im Leben und der spirituellen Entfaltung bemühen müssen.
Bei diesen Enthaltsamkeits-Experimenten wird man eventuell auch auf die Sache mit dem Tier im Menschen stoßen, wenn man merkt, wie schwer einem eine einfache Sache wie ein Nicht-Tun fällt.
Die traditionelle Haltung ist klar: Sex ist Ausdruck des Tiers im Menschen, also muss man den Ausdruck unterdrücken, um das Tier im Zaum zu halten. Das gleiche Verhalten zeigt ein Herrscher, der das Volk unterdrücken lässt, um seine Herrschaft zu sichern. Solch ein Herrscher herrscht nicht, sondern ist Gefangener seiner Methode. Denn sobald er den Druck vermindert, ist er die längste Zeit Herrscher gewesen. Diese Systeme, die auf Gewalt basieren, seinen es persönlich-spirituelle, psychologische oder politische Systeme, funktionieren nicht befriedigend, weil sie letztlich nur Symptombehandlung sind.
Betrachten wir das Thema darum von einer anderen Seite. Was unterscheidet den Menschen vom Tier?
Was den Sex betrifft, so ist das Tier weitgehend Sklave seiner Instinkte; der Mensch ist es – in der Theorie – nicht. Der unmittelbare Grund für Sex ist bei den Tieren nicht primär die Arterhaltung; vielmehr sind es nach gegenwärtigem Wissensstand zwei Komponenten: Das Balzverhalten des potentiellen Partners (wozu in gewisser Weise auch sein Aussehen gehört) und die Steuerung gewisser Vorgänge im Körper und Nervensystem durch Hormone und Pheromone. Diese Dinge wirken un- und unterbewusst auch auf den Menschen ein. Die unmittelbare, vormentale Reaktion des Menschen ist in der Tat tierischer Natur. Wie der Mensch aber letztlich tatsächlich reagiert – und darin hat er die Möglichkeit, sich vom Tier zu unterscheiden – hängt von der Entwicklung und Unabhängigkeit seines mentalen Wesens und von der Ausprägung seines Bewusstseins ab.
Wer einfach alles mitmacht oder ausführt, was auftaucht oder für wen es eine Qual bedeutet, sexuellen Impulsen, aus welchen Gründen auch immer, nicht nachgeben zu können, ist in der Tat noch sehr von der menschlichen Tiernatur beherrscht. Aber für solche Menschen stellt sich die Frage eines möglichen Konfliktes zwischen Sexualität und Spiritualität wahrscheinlich noch nicht, da ihr Interesse an Spiritualität oder das Bedürfnis danach meist nicht sonderlich ausgeprägt sein wird.
Wer sich aber mit dieser Thematik auseinandersetzt, muss sich auch noch mit einer dritten Komponente beschäftigen. Balzverhalten und Pheromone sind ein Grund, den intimen Kontakt mit anderen zu suchen, aber nicht primär für Selbstbefriedigung. So dient die Erinnerung an Sex oder Bilder und Filme sicherlich als Auslöser, aber das erklärt nicht, von den obligaten tiefenpsychologischen Erklärungsversuchen mal abgesehen, warum manche Erinnerungen aus heiterem Himmel plötzlich auftauchen. Es gibt da in der spirituellen Sichtweise eine Erklärung, die ursächlicher ist als die Psychologie und die in diesem Zusammenhang als eher phänomenologisch erscheint.
Die Problematik geht wieder auf die Entstehungsgeschichte des Menschen und der Natur zurück. Wenn man z. B. die physikalische Schöpfung betrachtet, so bildeten sich aus einem vergleichsweise homogenen Urknall Strukturen und Masseansammlungen, die sich zunehmend voneinander abgrenzten. Ohne diese Abgrenzung würde das Weltall heute aus einem Meer von Plasma oder Wasserstoff bestehen, ohne Sonnen und Planeten. In der biologischen Schöpfung haben sich die ersten Einzeller vom sie umgebenden Wasser, aus dem sie zum größten Teil selbst bestanden, durch dünne Membranen abgetrennt. Das Entstehen von Einzellern war die erste Form der Individualisierung auf biologischer Ebene. Diese Individualisierung schritt voran und wurde komplexer. Und dann tauchte der Mensch auf. Seine Unterscheidung vom Tier, seine Menschwerdung, liegt in einer weiteren Abtrennung, einer zusätzlichen Individualisierung begründet.
Eine Welle, die einen Korken emporhebt und anschließend fallen lässt bleibt selbst fast unberührt. Sie kann viele Wirkungen auslösen, ehe sie sich erschöpft. Auch Gefühle, Gedanken, Seelenregungen und die leidenschaftlichen Äußerungen der tierischen Natur sind solche Wellen. Jeder Mensch sendet permanent solche Wellen aus – und jeder Mensch empfängt sie. Wenn man dieser Brandung an Impulsen hilflos ausgeliefert ist, wenn man völlig von ihr dominiert wird, ist keine Bildung einer eigenen Persönlichkeit möglich. Darum hat sich bei unserer Menschwerdung eine Art Filter gebildet, der einen Großteil dieser Impulse wegfiltert, dabei leider auch unseren unmittelbaren Kontakt zur Seele. Dieser Filter ist das Ego, das uns das Bild einer selbstständigen, unabhängigen Persönlichkeit vorgaukelt. Das Ego ist unser Freund, weil es uns die Möglichkeit gibt, wirkliche Individuen zu werden – durch die von ihm verursachte Abtrennung. Gleichzeitig ist es unser Feind, weil es uns vom Göttlichen trennt. In diesem Zusammenhang bedeutet Spiritualität, die Möglichkeiten des Egos zu nutzen, um eine wirklich unabhängige Seelen-Persönlichkeit zu werden und das Ego aufzugeben oder zu transformieren, wenn dieser Prozess weit genug fortgeschritten ist, um zu einem wirklichen Menschen, dem Zukunftsmenschen, zu werden.
Nun filtert das Ego aber nicht restlos alles weg, was an Schwingungen auf uns einstürmt. Das, was durchkommt nehmen wir als „unsere“ Gedanken und Empfindungen wahr. Die wirklich uns eigenen Gedanken und Empfindungen stammen aus unseren Seelentiefen und Bewusstseinsweiten, und diese zu ergründen ist unser vorläufiger, primärer Daseinszweck.
Nun lässt unser Filter nicht willkürlich einen festen Promillesatz an Schwingungen durch. Es bleiben vor allem Schwingungen hängen, zu denen eine Resonanz besteht. Wenn in unserem Wesen z. B. etwas ist, das schnell zornig wird, dann haben alle zornigen Impulse, die uns berühren es leicht, hängen zu bleiben und einen Anfall auszulösen. Eben war man noch völlig ruhig, und plötzlich kocht es in einem aus einen objektiv nichtigen Anlass. Oder man kommt mit einem hektischen Menschen in Kontakt und wird plötzlich unruhig und unbeherrscht. Oder man befindet sich auf der Zuschauertribüne bei einer Sportveranstaltung und merkt, dass man plötzlich mittobt, ohne dass man sich richtig wehren könnte, obwohl man sonst die Ruhe und Unberührtheit in Person ist.
Die alte Spiritualität hat auf dieses Problem mit dem Rückzug in die Einsamkeit abgelegener Berghöhlen reagiert. Dort scheint die Schwingungsatmosphäre weniger dicht und ist der Suchende weniger visuellen und anderen Reizen ausgesetzt, die seine Empfänglichkeit für unerwünschte Schwingungen fördern. Stattdessen übt er, alles beiseitezuschieben oder zurückzuweisen für den großen Sprung.
In der neuen Spiritualität geht es darum, von außen kommende Gedanken als solche zu erkennen und zurückzuweisen, und nur das zuzulassen, was man zulassen möchte oder was hilfreich ist. Dabei geht es unter anderem darum, ob man Herrscher oder Sklave im eigenen Haus ist.
Darum ist es für eine neue Spiritualität nicht so sehr wichtig, was man macht, sondern ob man davon beherrscht wird oder ob man souverän darüber gebietet, ob man also ganz praktisch problemlos auf den Sex verzichten und seine Konzentration uneingeschränkt nach Bedarf einsetzen kann, wenn anderes im Vordergrund steht. Das gleiche Problem stellt sich auch bei Essen, Geld und Macht. Jeder der abnehmen möchte kennt das Problem der mangelnden Souveränität über den Hunger bestens. Die sexuelle Problematik ähnelt der des Abnehmens sehr stark. Man kann zwar mit großer Mühe und asketischer Ernährungsweise schnell abnehmen, aber nach Erreichen des Traumgewichts schnellt die Anzeige der Waage wieder schnell nach oben, da sich in unserer Natur nichts geändert hat. Eine dauerhafte Gewichtskontrolle erreicht man nur, wenn man sich von der Verhaftung an das Essen und spezielle Genüsse sowie an imperativ erscheinende Körper- und Vital-Instinkte innerlich so löst, dass man zwischendurch Schokolade essen kann ohne gleich mit einem kompletten Rückfall in alte Ernährungsgewohnheiten kämpfen zu müssen. Dazu braucht man Einsicht, Aufrichtigkeit, inneren Abstand, Geduld und Ausdauer.
In der alten, linearen Kosmologie gehören diese Dinge (Sex, Essen, Geld, Macht) zu den großen Hindernissen spiritueller Entwicklung. Aber ist es ein Zeichen spiritueller Größe, wenn man allen Konflikten konsequent aus dem Weg geht, statt sie zu lösen?
Zwar sucht man auch in der zirkulären Kosmologie nicht die Konfrontation, aber da alles Leben göttlich ist, muss man das Göttliche auch in Allem suchen und ausdrücken, andernfalls man diese Kräfte den dunklen Seiten der Natur zum Missbrauch überlässt. Die Welt wäre eine völlig andere, stünden Geld und Macht im Dienste des Göttlichen. Es gäbe sicherlich weder Hunger noch Krieg.
Doch auch die vielgeschmähte Sexualität kann ihr Scherflein zu einer göttlicheren Welt beitragen. Allzu oft vergisst man, dass das Göttliche nicht nur in der Natur und den uns umgebenden Dingen zu finden ist. So viele Menschen engagieren sich für den Erhalt des Regenwaldes, von antiken Baudenkmälern, von alten Apfelsorten und für den Natur- und Tierschutz und sind bereit beträchtliche Opfer dafür zu bringen. Aber zu oft wird darüber vergessen, das sich das Göttliche im Menschen auf direkteste und vielfältigste Weise ausdrückt. Würden wir, bei aller begründeten Sorge um den Schutz der Natur mehr Bemühen darauf verwenden, das Göttliche im Menschen zu entdecken, zu fördern und zur Entfaltung zu bringen, so würden diese anderen Sorgen sich zunehmend von selbst erledigen.
Da der Mensch Schwierigkeiten und Anstrengungen gern aus dem Weg geht, weist seine vordringliche Beschäftigung mit nicht-menschlichen Themen auf ein großes, unerschlossenes Potenzial hin.
In der linearen Kosmologie wird dieses Potenzial nicht angezapft, z. T. aus mangelndem Interesse, da ja Weltflucht und nicht die Transformation der menschlichen Gesellschaft das Ziel ist, und auch aus Angst vor den Komplikationen, die z. B. menschliche Beziehungen mit sich bringen und die sicherlich eine Belastung für einen spirituell Suchenden darstellen können.
Die Vorbehalte der alten Spiritualität gegenüber Beziehungen, die i. d. R. auch einen deutlichen sexuellen Aspekt beinhalten, waren vielfältig und in ihrem Rahmen sicher gerechtfertigt. Aber für eine neue Spiritualität sind diese Vorbehalte Hinweise auf unbearbeitete Bereiche und der Aufruf zu einer Neubetrachtung und Neubewertung und zur Bemühung um neue Verwirklichungen.
Der erste Vorbehalt ist weiter oben schon in anderem Zusammenhang angesprochen worden. Es geht dabei um die Sache mit den Schwingungen. Wenn man zu jemandem eine Beziehung hat, gleich welcher Art, so öffnet man sich für gewöhnlich in dem angesprochenen Bereich. Man kann eine Beziehung wie ein Kabel sehen, das zum Beispiel eine Verbindung von Lampe zu Steckdose herstellt. Das Kabel öffnet Stromkreis und Lampe füreinander und sorgt dafür, das Strom aus dem Netz abgezogen und die Lampe damit zum Leuchten gebracht werden kann. Oder man nehme einen Computer; da ist die Beziehung vielfältiger: Stromkabel, Audiokabel, Telefonkabel, Datenein- und -ausgangskabel, Druckerkabel, Netzkabel...
Beim Menschen ist es ähnlich. Wenn man in einem Supermarkt einkauft, hat man eine kurze sachliche Beziehung zur Verkäuferin an der Käsetheke und zum Kassierer an der Kasse. Je nach persönlicher Chemie und Häufigkeit des Einkaufens ist die Begegnung, also die kurze Beziehung, kühl, neutral oder herzlich, in den meisten Fällen aber ohne große Auswirkungen. Mit der Intensität der Beziehungen steigt auch die Stärke ihrer Auswirkungen. Bei jeder Beziehung öffnet man sich, je nach Art der Beziehung, den Schwingungen der Bezugsperson, wenn man genauer zuhört mehr als wenn man eigentlich das Weite suchen möchte, wenn man jemanden liebt tiefer als wenn man bei jemandem einkauft.
Das heißt, unser eingebauter Filter lässt in gewissen Bereichen in seiner Funktion nach. Wer nehmen vermehrt Impulse, Emotionen und Gedanken unseres Gegenübers auf, und wenn unsere innere Persönlichkeit nicht hinreichend individualisiert ist, halten wir sie u. U. für unsere eigenen. Das ist ein Prozess, der in beiden Richtungen abläuft, wenn auch nicht immer gleich stark: So ist die Schwingungsaufnahme bei Hörigkeit sehr unausgewogen, während man bei alten Paaren manchmal den Effekt jahrelangen gleichmäßigen Austauschs wahrnehmen kann, wenn beide die gleichen Angewohnheiten haben, oft die gleichen Gedanken denken und sich auch im Aussehen, im Rahmen des körperlich möglichen, einander annähern.
Bei einer Beziehung, sei ihre Natur nun Sex, Liebe, Beides oder Anderes, findet unweigerlich ein Austausch zwischen den Partnern statt. Nun sind zwei Menschen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, gefunden haben aber nicht gleichwertig. Jeder hat seine Stärken und Schwächen – und daraus ergeben sich natürlich vielfältige Interaktionen: gegenseitiges Hochheben gemeinsamer Stärken, gegenseitiges Herabziehen bei gemeinsamen Schwächen, wechselseitiger Auf- und Abbau, wenn Stärke auf Schwäche trifft – und dies in allen Lebens- und Wesensbereichen, z. T. auch unabhängig von den übrigen Teilen. Es gibt da ein Gesetz, das über die Jahrtausende immer wieder bestätigt gefunden wurde und auch heute noch nicht endgültig widerlegt wurde: Wenn viele Menschen zusammen sind, vergessen sie ihre Stärke (siehe die Empfänglichkeit von Menschenmassen für Demagogie) und kehren ihre Schwächen und schlechten Seiten hervor. Aus all dem haben die alten Weisen geschlossen, dass ein Mensch, dem an seiner spirituellen Entwicklung gelegen ist, am besten allein bleibe, denn in einer Beziehung findet fast immer eine Nivellierung auf unterdurchschnittlichem Niveau statt. Für den Empfangenden sicher eine gute Sache, aber in der puristisch linearen Kosmologie spielt Wohltätigkeit keine herausragende Rolle. Ganz im Gegenteil gilt für den weiterentwickelten Partner eine Beziehung als Hemmschuh, der den Expresszug zum Göttlichen im Extremfall den Rückwärtsgang einlegen lässt, auch weil zu einer Beziehung meist auch sinnliche Freuden gehören, deren Auswirkungen ja schon behandelt wurden. Nicht umsonst wurden in den Stätten religiöser wie spiritueller Konzentration wie Klöstern und Ashrams Schweigegelübde eingeführt und von freundschaftlichen Beziehungen untereinander häufig abgeraten.
Auch wenn der Fall, dass zwei Menschen sich gegenseitig fördern könnten, im Großen und Ganzen wohl eine Ausnahmeerscheinung darstellt, ist damit längst nicht alles zum Thema Beziehung gesagt. Die moderne Sichtweise setzt natürlich andere Schwerpunkte, und auch wenn das eigentliche Thema hier die Sexualität ist, soll doch auch auf auf verschiedene Aspekte von Beziehungen eingegangen werden, weil Sexualität immer in einem wie auch immer gearteten Beziehungsrahmen stattfindet und in ihrer Qualität, Erfahrung und Ausprägung von diesem Rahmen geprägt wird und eine neue Kosmologie immer auch einen neuen Zugang zu den Dingen des Daseins mit sich bringt.
In der neuen zirkulären Kosmologie ist alles aus dem Göttlichen entstanden und strebt zu ihm zurück – und alles verkörpert letztlich das Göttliche. Am deutlichsten sichtbar ist diese Verkörperung im Menschen. Das bedeutet, das man das Göttliche am besten in sich selbst und in der Begegnung mit anderen Menschen finden kann. Man kann sogar sagen, dass eine Beziehung immer die Begegnung des Göttlichen mit sich selbst ist. Das Problem vieler Beziehungen und auch das Problem der Welt mit ihren vielen Menschen und Völkern ist eine gestörte Wahrnehmung des Göttlichen. Jeder neigt dazu, sich selbst als Mittelpunkt des Universums zu betrachten (prominentestes Opfer: Galileo Galilei) und als Statthalter Gottes, wenn nicht gleich Gott selbst. Und so leben wir in einem immerwährenden Krieg, den diese Statthalter miteinander führen.
Doch Gott führt keinen Krieg. Seine Schöpfung ist Eins. Und statt uns mit Statthaltern abzugeben, müssen wir uns auf die Suche nach dem Original machen. Der direkteste Weg führt über unsere Seele nach innen. Das ist der kürzeste Weg; da muss man nicht weit laufen. Gleichzeitig kann man sich auch auf die Suche nach dem Göttlichen im „Außen“ machen. Dort lauert das Göttliche überall. Und am auffälligsten ist es in den anderen Menschen zu sehen. Darum ist jede Art von Beziehung, und sei es es ein Verkaufsgespräch“ eine Beziehung zum Göttlichen, und so sollte man anderen Menschen auch begegnen. Man sollte immer versuchen, das Göttliche in ihnen zu sehen und anzusprechen. Und wenn man es genau betrachtet: Wer weiß, was „Liebe auf den ersten Blick“ wirklich ist? Vielleicht hat man einen kurzen Blick auf das Göttliche im Anderen erhascht. Das Göttliche ist überall. Letztlich liegt es an uns, ob wir aus allem was in unser Leben tritt, eine Stufe auf der Treppe zum Göttlichen machen oder ob wir sagen: Dieses ist göttlich, jenes nicht.
Die Gefahr, die bei dieser großen Liebe entsteht, liegt darin, dass man sich auf diesen einen Zugang zur göttlichen Wonne versteift und den Inhalt (das Göttliche) auf die Form (den Partner) reduziert, und man womöglich glaubt, schon am Ziel angelangt zu sein. Das Leben wird institutionalisiert (Ehe) und in eine Form gepresst (Partnerschaft, Haus, Kind...) und anderer Zugänge zum Göttlichen beraubt (Rückzug aus dem Freundeskreis), und ehe man sich versieht (Gewohnheiten, Kleinkrieg, Scheidung) ist man weiter vom Göttlichen entfernt als zuvor.
Wer ein neues Leben führen will, muss lernen, mit den Hinterlassenschaften des alten Lebens umzugehen und sie vor allem zu erkennen. Diese Hinterlassenschaften nennt man Formationen. Eine Formation ist eine Sache, die man übernimmt und an die man glaubt, ohne es zu bemerken und ohne so recht zu wissen warum, also eine Art kollektive Suggestion. Formationen können sehr langlebig sein, aber sie sind nicht unsterblich. Die bekannteste Formationstheorie ist die Geschichte mit Maya, in der die ganze Welt eine Illusion ist, und nur das Göttliche real. Diese Aussage ist Bestandteil der linearen Kosmologie und dient der Rechtfertigung für die Weltflucht. Die Übersetzung der zirkulären Kosmologie lautet etwas anders. Die ganze Welt ist eine große Formation, nur der Formierer nicht, der Schöpfer, der diese Formation stützt. Die Formationen haben hinsichtlich ihrer Haltbarkeit und Universalität eine sehr unterschiedliche Qualität. Um zum Formierer zu gelangen muss man die Formationen erkennen und sich ihrem Einfluss entziehen und die Welt stattdessen mit Leben und Unmittelbarkeit füllen, der dynamischen Form des Göttlichen. Also: Nicht Weltflucht, sondern Erkennen einer Formation, sich von ihr lösen und durch den direkten Kontakt zum Göttlichen, das letztlich dahintersteht, ersetzen, bis man das Göttliche verwirklicht hat. Die Befreiung von der Bindung an eine Formation ist ein Akt der Spiritualität; ob man ihr letztlich folgt, hängt von ihrer Nützlichkeit und anderen Erwägungen ab.
So war eine bekannte Formation das ptolemäische Weltbild, das schließlich durch das treffendere kopernikanische Weltbild ersetzt wurde, eine der Zeit adäquatere Formation.
Es gibt Formationen, die sind subtil (Krankheit, Tod), und es gibt große Formationen. Im Bereich Sex, Beziehung, Partnerschaft, Spiritualität gibt es eine Unmenge von Formationen denen man sich unterwirft und die man oft genug bedauert. Die ganze bislang besprochene Geschichte mit der linearen Kosmologie ist eine einzige Abfolge veralteter Formationen.
Im Bereich Sexualität und Partnerschaft gab es schon mal eine große Bemühung, die zugehörigen Formationen aufzubrechen: die 68er Flower-Power-Bewegung. Zwar hat die Revolution den Revolutionären nicht alles gebracht, was sie sich erträumten, zum einen, weil die Beharrungs- und Widerstandskräfte alter und weit verbreiteter Formationen enorm sind, zum anderen, weil die Schaffung pauschaler Anti-Formationen nicht ganz der richtige Weg war, aber die Revolution hat doch einen Zersetzungsprozess für diese Formationen in Gang gesetzt, der bis in die heutige Zeit nachwirkt.
Eine Formation ist letztlich immer eine Begrenzung, die unser Wirken und die Reichweite unserer Gedanken, unseres Strebens und unserer Vorstellungskraft auf eine festgefügte Distanz oder Form beschränkt – also ein Gefängnis. Nun kommen die wenigsten Menschen, die in einem Gefängnis geboren werden, mit plötzlicher Freiheit zurecht, und die meisten Menschen lieben ihr geregelt erscheinendes, gegängeltes Leben. Änderungen oder gar Abschaffung einzelner Gefängnisregeln bewirken Unsicherheit und Verlust von Orientierung. Wenn man nicht gelernt hat, zur Orientierung nach Innen zu blicken, zum Göttlichen (nicht zum Religionsbuch und -gott) empfindet man das als beängstigend und sträubt sich. Aber wirkliche Änderungen können, wenn sie erst mal begonnen haben, nicht mehr aufgehalten werden, nur behindert, verzerrt und verzögert. Aber da Veränderungen und neue Formationen immer nur in kleinen Portionen verkraftet werden, dauern Änderungen sehr lange. Wer es eilig hat, sollte sich mit anderen zusammentun und eine Insel für die Befreiung von Formationen gründen, wie es zum Beispiel bei der Gründung von Mirapuri, der Stadt des Friedens und des Zukunftsmenschen in Europa, geschehen ist, oder sich einer bestehenden Insel anschließen.
Die Formationen, gegen die die 68er-Revolution angerannt ist, betreffen das menschliche Miteinander und dadurch mittelbar das Verhältnis zu Krieg und Frieden in Bezug auf sich selbst, andere Menschen und Nationen und auf die Person der Erde: Das sind Defizite bei Freundschaft, Vertrauen, Liebe, Einheit, Sexualität, Beziehungsfähigkeit, Freiheit.
Die größten Wogen der Entrüstung sind vorbei, die Pendelausschläge von Aktion und Reaktion werden schwächer, und die Zahl der Opponenten der ersten Stunde vermindert sich auf natürlichem Weg, während ganze Generationen herangewachsen sind, die die Zeit davor allenfalls aus Schauermärchen kennt. Doch der gegenwärtige Zustand wird geprägt von Kompromissen, und zur Freiheit ist es noch ein weiter Weg. Denn auch wenn die Gesetzgebung dem Zeitgeist hinterher hinkt, bedarf das nötige Bewusstsein für die Verwirklichung alter und vielleicht auch unausgesprochener Hoffnungen auch noch des Wachstums, denn die Revolution ist nicht nur am Beharrungsvermögen des Alten gescheitert, sondern das neue Bewusstsein für die neuen Formen war nur erahnt, nicht verwirklicht.
Das nötige Bewusstsein ist immer noch nicht verwirklicht, aber es ist soweit gereift, dass es sich jetzt mit etwas Praxis und Freiheit entfalten und zur Blüte gelangen kann.
Zwischen dem Jetzt und der Entfaltung steht eine Reihe von Formationen. Eine der grundlegendsten betrifft die Frage der sexuellen Neigungen. Die gängigste Formation bzgl. des Sex ist die, dass der aktive Mann und die passive Frau Sex in der Missionarsstellung haben, auch wenn diese Formation heute nicht mehr so dominant ist wie vor 50 Jahren. Alles was von diesen drei Komponenten abweicht ist mit mehr oder minder starken Tabu-formationen belegt. Tabu bedeutet, dass man darüber nicht nachdenkt, nicht redet und vor allem das, worüber man nicht nachdenkt und redet auch nicht in Taten umsetzt, und schon gar nicht so, dass das jemand anderes bemerken könnte. Nun bedeutet die Tatsache, dass eine Formation existiert, dass eine ganze Bandbreite von Möglichkeiten ausgeschlossen wird. Und in diesem Fall gibt es ein ganzes Spektrum nicht formationskonformer Möglichkeiten. Es gibt Asexualität, Bisexualität, Homosexualität und alle möglichen Zwischenstufen; es gibt Oralverkehr, Analverkehr, Masturbation, gegenseitige Masturbation, Lederfetischismus, Gummifetischismus, Uniformfetischismus, Turnschuhfetischismus und vieles mehr in jeder nur denkbaren Version. Diese ganzen Möglichkeiten, Regungen und Bedürfnisse werden durch die Aufrechterhaltung dieser Formation in ihrem Ausdruck unterdrückt und in die Schattenbereiche abgedrängt, also entweder ins Unterbewusste oder in zwanghaftes Handeln oder in eine Subkultur. Dies führt zu einem generellen Dissens und steht so der Einheit einer Gesellschaft und einer planetaren Kultur im Weg.
Eine der größten Tabuformationsgruppen, und die zweitgrößte im weiten Bereich der Sexualität überhaupt, betrifft die Homosexualität. Hier wird von Kindheit an am meisten verdrängt. Homosexualität bedeutet nicht nur, dass einige Leute schwul oder lesbisch sind, sondern auch, dass viel mehr Menschen mehr oder minder hohe homosexuelle Anteile in einem überwiegend heterosexuell geprägten Wesen verstecken und diese allenfalls in Ersatzbefriedigungen ausleben und im schlimmsten Fall als schwulenfeindliche Schläger Negativkarriere machen.
Sexuelle Empfindungen und Bedürfnisse gehören zu den grundlegendsten und einflussreichsten Aspekten des menschlichen Lebens. In diesem Bereich Verschlossenheit, Unehrlichkeit und Heuchelei zu züchten, gehört zu den schlimmsten Verbrechen der letzten Jahrtausende und ist unterschwellig mit Schuld am Zustand unseres Planeten. Das führt zu Bigotterie und Fanatismus, aber nicht zu spirtuellem Leben. Die meisten selbsternannten Prediger wider eine Sexualität im spirituellen Leben und wider Freude und Humor auf dem spirituellen Weg sind solche freudlosen Fanatiker und verkniffenen Pseudo-Gurus, die voller Angst jeden Blick in ihr sexuelles Innenleben verweigern.
Die Suche nach Spiritualität ist die Suche nach der inneren Ganzheit. Dazu gehört nicht die Verdrängung sondern die bewusste Auseinandersetzung mit allen Wesensteilen. Und dazu ist ganz essentiell eine tiefgreifende und nie nachlassende Ehrlichkeit nötig.
Die dritt-heikelste Formation im sexuellen Bereich betrifft die Frage der Bindung.
In den Beziehungen, die Menschen miteinander haben, gibt es zwei Grundgruppen: die sozialen-politischen Beziehungen, die hierarchisch geprägt sind und die weniger reglementierten privaten Beziehungen. Die Formationen, die seit Äonen die sozialen Beziehungen prägen, haben den Sinn, überhaupt eine Grundlage für ein gemeinschaftliches Leben zu ermöglichen, indem sie den Egoismen und dem unterentwickelten Gemeinschaftsempfinden einzelner Begrenzungen auferlegen, Entscheidungsprozesse vereinfachen und in den Bereich der Vernunft heben und Energien in eine gemeinsame Richtung lenken. Die persönlichen Beziehungen, also Freundschaften unterlagen weniger Formationen. Es ging dabei meist um Fragen des sozialen Standes und auch um Machtfragen.
Eine Mischform zwischen beiden ist die Institutionalisierung der Beziehung. Diese wurde eingeführt, um für die „Aufzucht“ des Nachwuchses, der für die Fortdauer des Gemeinschaftswesens unentbehrlich ist, eine stabile und verlässliche Grundlage zu schaffen. Diese besteht darin, dass ein Paar dem Schutz der Gemeinschaft unterliegt und gleichzeitig ihrem Druck ausgesetzt ist, eine stabile Beziehung zu führen, in der sich einer auf den anderen verlassen kann. Gleichzeitig wurde diese Beziehung deutlich über jede andere Art der persönlichen Beziehung erhoben und unantastbar gemacht.
Was aber nun in alten Zeiten bei einem sich erst zaghaft entwickelnden Menschenwesen und Gemeinschaftswesen Sinn gemacht hat, muss in modernerer Zeit doch sehr relativiert werden. Zwar gibt es immer noch Menschen mit vormittelalterlicher Geistes- und Gemütshaltung, aber es gibt auch immer mehr Menschen, die sich nicht nur im Einzelfall, sondern grundsätzlich eine Änderung der Rahmenbedingungen wünschen und auch die dafür nötige Entwicklung hinter sich haben.
So kann man zwar so viele Freunde haben wie man will, aber mehrere Liebespartner sind schon eine schwierige Sache. Zum einen ist das Ankämpfen gegen sozialen Druck nicht jedermanns Sache, zum anderen ist man selbst und jeder mögliche Partner unter einer Formation aufgewachsen, die das alte „Entweder Oder“ zur Grundlage partnerschaftlicher Gefühlswelten macht und auf „Sowohl Als Auch“ eher verstört reagiert. Diese Formation nur für sich selbst niederzureißen bedarf einer sehr bewussten und ausdauernden Anstrengung. Ist es aber erst mal gelungen, kann man seine Schwarz-Weiß-Welt verlassen und ein eine Welt überwechseln, in der es alle Abstufungen von leuchtenden Farben gibt. Und da wo früher Beschränkung war, können vielfältige Beziehungen sprießen, deren Intensität und Vernetzungsgrad nur noch natürlichen Beschränkungen unterliegt. So tauscht man Beschränkung gegen Freiheit ein und macht aus dem Leben eine Gelegenheit und ein Sprungbrett für die innere Entwicklung und Evolution.
Die bedeutendste Formation bei der Sexualität scheint aber der weite Bereich der Nacktheit zu sein. Tritt die Bindungsformation erst ab der Pubertät so richtig ins Leben ein und beraubt den Menschen seiner Freiheit, so beraubt die Formation der sexuellen Gleichförmigkeit den Menschen bereits in den ersten Schuljahren der Aufrichtigkeit. Die Formation des Verbergens aber entfaltet ihre Wirksamkeit manchmal bereits vor Schulbeginn und nimmt dem sich entwickelnden Wesen die Offenheit. Zwar gibt es da von Familie zu Familie z.T. große Unterschiede, aber letztlich bekommt jedes Kind sehr schnell mit, dass Nacktheit nur im Rahmen der Familie begrenzt toleriert wird und Nackheit vor Fremden jenseits des Windelalters ein absolutes Tabu ist. Mit dem Heranwachsen wird das Tabu in der Familie immer größer, und nur in der Experimentierphase öffnet man sich eventuell ein wenig seinen Freunden, worüber man aber bereits ein paar Jahre später zu sprechen vermeidet. Während in der Pubertät Mädchen vor allem dem männlichen Geschlecht gegenüber heikel sind, ist die Angst der Jungen universaler, denn ungeschützt durch Kleidung kann jeder die Größe des Penis sehen, was ab der Pubertät viele Jahre lang, und für manche für den Rest ihres Lebens, als Gradmesser für Männlichkeit gilt, und außerdem zeigt der unverhüllte Penis auch sehr deutlich den aktuellen sexuellen Erregungsgrad.
Dieses Tabu, seine Erregung zu zeigen, ist letztlich eine verschärfte Sonderform des Nacktheitstabus. Zwar gibt es institutionalisierte Formen der Nacktheit (ärztl. Untersuchung, FKK-Anlagen, Duschbereich von Sporteinrichtungen, länderspezifisch auch der Saunabereich), aber überall ist eine Erektion Tabu.
Es gibt natürlich noch eine Sonderform der Sonderform, die das eigentliche Zentrum des Nackheitstabus bildet: Es ist der öffentliche Sex. Nun ist es natürlich nicht so, dass man sich mit seinem Partner nur deshalb in einen abgeschlossenen Raum zurückzieht, weil es die Taburegelung so vorsieht; selbst wenn es diese Regelung nicht gäbe, würden viele Leute eine abgelegene Örtlichkeit wählen, um sich in Geborgenheit und Ungestörtheit ausschließlich auf den Partner konzentrieren zu können.
Das Problem des Nacktheits-Tabus ist letztlich nicht die Örtlichkeit oder die Nicht-Öffentlichkeit beim Sex; das sind nur Ergebnisse oder Folgen. Jeder Mensch weiß, wie andere Menschen nackt aussehen, jeder Mensch weiß, wie sich sexuelle Erregung äußert und was beim Sex geschieht. Das sind alles natürliche Dinge. Wir werden nackt geboren, und selbst Babys haben bisweilen schon Erektionen. Diese Bemühung, krampfhaft alles, was offensichtlich ist, verborgen zu halten führt zu einer gesellschaftlich sehr ungesunden Grundhaltung. Es wird zwar argumentiert, dass man die Kinder unbedingt von all dem fernhalten und ihre Unberührtheit erhalten muss. Aber stimmt das wirklich? In Naturvölkern und auch im Mittelalter unseres zivilisierten Abendlandes ist und war es nicht ungewöhnlich, dass die ganze Familie und das Gesinde und die Gäste in einem Raum schliefen. Es scheint nicht so, als ob die Kinder darunter leiden, dass sie mitkriegen, was die Erwachsenen so miteinander machen. Es führt eher zu einer gewissen Lockerheit sexuellen Dingen gegenüber, die in der sog. zivilisierten Welt fehlt; statt dessen gibt es bei uns eine ausgeprägte Sprachlosigkeit zwischen Eltern und Kindern, zwischen Jungs und Mädchen und eine sehr einseitige Kommunikationsform der Jungs untereinander. Unschuld geht nicht durch das Erfahren von Offensichtlichem verloren, sondern durch Verstecken, Verschweigen, Wegsehen, Verkrampfen, Unterdrücken... Das Tabu der Nacktheit mit all seinen Folgen kostet uns unsere Unschuld, die Fähigkeit, über Dinge zu reden, die zu unserer Natur und unserem Wesen gehören und kostet uns letztlich die Fähigkeit zur Offenheit.
Wenn man sich spirituell entwickeln möchte, so muss man sich mit den Dingen des Inneren und des Verborgenen auseinandersetzen. Dazu gehört auch die Sexualität. Ein neuer Umgang mit ihr wird Teil eines neuen Bewusstseins sein, das aus der zirkulären bzw. spiralförmigen Kosmologie erwächst und in eine neue Spiritualität führt.
Im neuen Bewusstsein der Zukunft wird es dann keine Besitzansprüche mehr geben. Liebe ist ein Gut, das mit vollen Händen verschenkt wird und dabei mehr wird statt weniger. Man braucht seine Liebe nicht mehr auf einen Menschen zu beschränken, was nicht heißt, dass man mit jedem eine gleich tiefe Beziehung aufbaut. Die Menschen werden immer Individuen bleiben, mit individuellen Bindungen, aber die innere Einheit, die alle Menschen miteinander und mit Gott verbindet, wird nicht mehr so verborgen sein, sondern offenbarer.
Äußerlich wird das so aussehen, dass neue Großfamilien entstehen werden, bei denen sich mehr bis deutlich mehr als zwei Menschen zusammenfinden. Diese Verbindungen werden durch Zuneigung zusammengehalten, nicht durch Gesetze und Verträge. Die Familienstrukturen dienen nicht als Alibifunktion, um sanktionierten Sex zu haben, sondern dokumentieren gewissermaßen die Verbundenheit von Seelen- und Neigungsverwandschaften. Sex ist also auch außerhalb der Familie möglich und wird auch nicht mehr die große Bedeutung haben, die ihm jetzt noch beigemessen wird, da das Bewusstsein des Getrenntseins schwächer geworden sein wird und nicht jede Form körperlicher Nähe als Aufforderung verstanden wird.
Das mag alles wie eine Utopie klingen, aber es muss und wird sicherlich keine Utopie bleiben. Spiritualität und Sexualität bilden letztlich keine unüberwindbaren Gegensätze. Aber für eine freiere Gesellschaft muss man auch etwas tun. Man fängt in sich selbst an und tut sich dann mit anderen zusammen. Früher oder später findet das eigene Beispiel eine weitere Verbreitung und wird letztlich in kollektiver Bemühung verwirklicht. Der dafür nötige individuelle wie kollektive Bewusstseinswandel erfordert Einsicht, Durchblick, absolute Aufrichtigkeit, Beharrlichkeit und Geduld. Mit diesen Eigenschaften und Fähigkeiten lässt sich jedes Ziel erreichen.

Oktober 2002

 

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