SPIRITUALITÄT

Copyright: Anand Buchwald, eMail: anand@Mirapuri-Enterprises.com

 

Spiritualität ist ein immer wieder auftauchender Begriff, den viele Menschen nicht verstehen und der auch kaum jemals verständlich und einheitlich definiert wurde. Zudem hängt die Bedeutung, die diesem Begriff zugeordnet wird, überwiegend sowohl von persönlich-gefühlsmäßigen Faktoren und Bildungsrichtung als auch vom sozial-religiösen Umfeld ab. Im Folgenden möchte ich darum versuchen, den Begriff ein wenig zu erläutern, auch wenn abzusehen ist, dass diese Erläuterung nicht ausreichend umfassend sein kann.

Man kann damit beginnen, zu definieren was Spiritualität nicht ist - obwohl die Sachlage nicht ganz so einfach und eindeutig ist.

Was im Zusammenhang mit Spiritualität sehr häufig auftaucht, sind "Alternatives Leben", uralte Traditionen (je älter desto besser) wie Druidentum oder Schamanismus, aber auch Kurse, Seminare, Meditationsgruppen... , die mit Spiritualität zumindest als Hintergedanken werben. Aber was wird da eigentlich angeboten und angepriesen?

Alternatives Leben oder Biologischer Anbau bedeutet in der Regel eine Abkehr von bestimmten Lebensformen und Ersetzen durch neue oder besser gesagt andere Formen. Aber ist der Austausch von Kunststoffkleidung durch Wollkleidung etwas Spirituelles? Ist der innere Kontakt zur Natur schon spirituell? Ist es Spiritualität, mit der Natur auf vernünftige und angemessene Weise umzugehen? Oder ist es gar Spiritualität, die Fortschritte des menschlichen Geistes abzutun und das Instinktwesen zu fördern, um der Natur näher zu sein? Oder, um noch deutlicher zu werden: Verlangt ein spirituelles Leben von uns, die Evolution voranzutreiben oder sie rückgängig zu machen?

Und was die alten Bräuche der Kelten, der Hopi, der Aborigines, der Germanen, der Wikinger, der Dogon... betrifft: Was ist am Wiederkäuen alter Bräuche spirituell, was ist an der Ritualistik spirituell? Manche Rituale sind eine archaische Art, Dinge zu sagen oder vielleicht am Bewusstsein vorbei Aussagen zu vermitteln. Manche Rituale sind auch Verkleidungen für Techniken der Bewusstseinserweiterung oder der Disziplinierung vitaler Wesensteile. Manche Rituale sind nur dann von Wert, wenn man weiß, worum es geht und sich um das dafür nötige Bewusstsein bemüht. Aber sind diese Riten deswegen spirituell?

Und was die moderneren Dinge angeht: Massage ist gut für den Körper, die innere wie äußere Entspannung und einen harmonischen Energiefluß, evtl. auch für eine bessere emotionale Verständigung von Masseur und Massiertem und als Training in Einfühlungsvermögen geeignet. Tanzen dient der Entspannung und Lockerung, der Erfahrung und Entfaltung der körperlichen Möglichkeiten, der körperlichen Bewusstwerdung... Singen dient der Stimmbildung, der Sauerstoffversorgung, dem Ausdrucksvermögen, evtl. der Entspannung... Meditation dient der Entspannung, dem Verstehen, dem Ruhig-Werden, dem Kraft-Schöpfen, der Konzentration, der Betrachtung.

Man kann sehen, dass all diese und viele andere Tätigkeiten und Rituale dazu dienen, uns bestimmte Fähigkeiten bewusst zu machen, sie zu wecken und zu trainieren. Aber man kann nicht sagen, dass sie Spiritualität verursachen oder vermitteln. Im Grunde genommen sind es Techniken, die man erlernen kann. Spiritualität aber kann man nicht erlernen, man kann sie nur entwickeln. Spiritualität entsteht eher aus einer Bewusstseinshaltung als aus einer Technik.

All diese Kurse sind im Grunde genommen Bestandteile einer Ausbildung, bei der der rote Faden fehlt, die Strutur, der Überblick; es sind - nicht unbedingt zentrale - Steinchen in einem Puzzle, von dem man nicht weiß wie es aussieht. Man könnte auch sagen, sie sind der Versuch, eine Ahnung oder eine Sehnsucht auf technische und technologische Weise zu ergründen, ohne ihr eigentliches Wesen zu begreifen.

All diese Techniken dienen vordergründig auf die eine oder andere Weise der Ausweitung des Bewusstseins. Doch man muss sehr achtsam sein. Meistens erlangen diese Techniken einen sehr proprietären Einfluss auf das Bewusstsein. Der Anwender wird zum Sklaven der Technik, zum spirituellen Techniker. Da färbt sich dann schleichend oder wie eine Lawine das ganze Weltbild astrologisch, numerologisch, arkanisch oder geomantisch oder alles zusammen. Über den vielen faszinierenden Möglichkeiten, Zusammenhängen und Einflüssen begrenzt sich leicht der Horizont auf Techniken, und zuletzt landet man beim Gegenteil dessen, wofür man angetreten ist. Zu lockend ist die Versuchung einfacher Rezepte, zu sehr bereit für Selbsttäuschung unser äußeres Wesen. Der spirituell Suchende wird zum Esoteriker und gibt die Suche auf.

Um dort wieder herauszukommen oder gar nicht erst hineinzugeraten ist eine Bemühung um Objektivität nötig. Man muss sich - unabhängig von Buchwissen und Buchvorgaben - fragen, was die Sache bringt, was sie an Möglichkeiten in sich birgt, ob ein paar Rezepte alles ist, was man vom Leben erwartet, welchen Fortschritt man damit wirklich machen kann und wieweit der Fortschritt geht, wie wichtig die Sache für unser Leben ist und ob und warum es tragisch wäre, würde man die Sache aus seinem Leben und Bewusstsein fernhalten. Auf diese Weise kann man versuchen, jedes Ding an seinen Platz zu stellen und ein Gefühl für wirkliche Relationen zu bekommen. Man muß im Grunde genommen immerzu versuchen, ein schon aus der Kindheit bekanntes Phänomen bewusst anzuwenden: Eine Sache gewinnt eine ganz andere Bedeutung wenn man sie mit dem Abstand verstrichener Tage oder Jahre betrachtet, oder direkter ausgedrückt, mit dem Abstand gewachsenen Bewusstseins.

Nachdem wir uns jetzt also mit der Mentalität des Spirituellen Technikers beschäftigt haben, können wir versuchen, uns dem eigentlichen Begriff des Spirituellen zu nähern.

Spiritualität bedeutet, das Bewusstsein stetig auszuweiten, wenn auch nicht ganz auf die Weise, wie die Flower-Power-Bewegung der späten 60er Jahre an das Thema herangegangen ist. Die geistige Welt dieser Zeit war Ausdruck einer speziellen Richtung des Spirituellen oder auch ein erster Gehversuch. Wahre Spiritualität bedeutet meiner Meinung nach einen fortschreitenden Bewusstwerdungsprozess und ist Ausdruck der Bemühung, ein vollständiger, wahrer Mensch zu werden. Der Bewusstwerdungsprozess muss sich darum über alle Aspekte des menschlichen Lebens erstrecken, denn wenn irgendein Teil unseres Wesens unbekannt oder unbewust ist, kann er im günstigsten Fall im Konzert der übrigen Teile nicht mitspielen oder sorgt im schlechtesten Fall dafür, dass statt eines Konzertes nur eine Kakophonie zustandekommt. Wenn man in dieser Analogie bleibt, so ist ein spirituelles Leben die Bemühung, alle Wesensteile zu einem virtuosen Orchester zusammenwachsen zu lassen, das wie eine einzige kraftvolle Bewegung agiert und eine Meisterschaft erlangt, die es ihm ermöglicht, eine bisher unmögliche Ausdruckskraft zu erreichen und die ausgetretenen Pfade zu verlassen und zu neuen Ufern aufzubrechen.

Da dieses Ziel nicht so ohne weiteres ohne Konzept mit Links zu erreichen ist, muss man wohl auf Entdeckungsreise gehen, muss man zu einem Forscher werden, zu einem Bewusstseinsforscher.

Vorarbeiten zu diesem Unternehmen haben Sri Aurobindo und Mira Alfassa geleistet, die wie die Entdecker früherer Jahrhunderte, eine Art Landkarte oder Atlas des menschlichen Lebens und Bewusstseins erstellt haben, auf der zumindest die wichtigsten und grundlegendsten Dinge eingetragen sind, so dass man mit seiner Bemühung nicht ganz vor dem Nichts steht. Mit diesen Hilfen, diesem Roten Faden, kann man sich auf den Weg machen, das eigene Wesen zu erkunden und die Lücken der eigenen Landkarte zu füllen.

Und wenn man erst einmal einen kleinen Überblick gewonnen hat, vielleicht weiß, in welcher Richtung das Ziel liegt, dann fängt evtl. die Beschäftigung mit den eingangs beschriebenen Techniken an, Sinn zu machen, und dann ist auch die Gefahr etwas kleiner, dass man den Teil für das Ganze und die Technik für das Ziel hält und dabei kleben bleibt, statt sich weiter zu bewegen. Statt dessen kann man gezielt schauen, was einem hilft und weiterbringt, den Rest verwerfen und zur nächsten Lektion übergehen.

Wichtigstes Instrument bei diesem Bemühen ist die gnadenlose Wahrheit. Wahrheit bedeutet nicht in erster Linie, niemanden anzulügen, sondern der inneren Natur der Dinge nachzuforschen. Wahrheit ist in erster Linie die Wahrheit gegenüber sich selbst, sich selbst gegenüber ehrlich sein, - die Wahrheit anderen Gegenüber ist nur eine Folge davon. Wahrheit bedeutet, frei von Formationen zu sein, frei von den Meinungen anderer, und sich statt dessen ein eigenes Urteil zu bilden oder sich einzugestehen, nicht genug zu wissen. Wenn man nicht genug weiß, kann man versuchen, sich das Wissen zu verschaffen. Wahrheit bedeutet nicht, der Masse zu folgen (abgesehen davon, dass die Masse selten recht hat), sondern zu einer als richtig erkannten Sache zu stehen. Heute weiß jeder, dass Newton und Galilei recht hatten. Das menschliche Weltbild hat einen Fortschritt gemacht, weil sie zu der als wahr erkannten Erkenntnis standen. Und das allgemeine menschliche Bewusstsein hat kollektiv einen kleinen Schritt noch vorn getan.

Streben nach Wahrheit bedeutet, sich ständig zu fragen, was hinter jener Regung steht oder hinter jener Meinung. Das soll aber nicht zur Selbstzerfleischung führen. Man kann dies machen, indem man etwas hinter sich zurücktritt und wie unbeteiligt beobachtet und registriert. Man muss nicht gleich alles analysieren und sezieren - einfach nur schauen, beobachten, wahrnehmen. Mit einigen Sachen wird man sich beschäftigen, mit anderen nicht. Viele Beobachtungen wird man immer wieder machen; irgendwann wird man sich mit ihnen beschäftigen, ohne zu einem Abschluss zu gelangen, und irgendwann wird man zu einem Schluss kommen und etwas ändern. Und irgendwann wird man jede Erkenntnis, die man hatte wieder überarbeiten müssen, weil man eine größere Wahrheit entdeckt hat.

Damit es dazu kommt, ist Offenheit notwendig, wirkliche Freiheit der Gedanken und Gefühle, ein permanentes Streben um Ausweitung des Bewusstseins und umfassenderes Verstehen. Nichts darf vom Bemühen um Verständnis ausgenommen bleiben. Man muss zu einem Forscher werden, zu jemandem, der sein Bewusstsein erforscht. Dann fängt man an, sich dem Spirituellen zu nähern. Denn als begrenzter Mensch wird man Spiritualität in der Begrenztheit nicht finden und erkennen können.

 

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