DIE WOLKENSEGLER

Copyright: Anand Buchwald, eMail: anand@Mirapuri-Enterprises.com

 

Das Licht war gedämpft. Die meisten Leute hatten ihren Blick auf den Boden gerichtet oder sahen nach vorne. Einige wenige hielten die Augen geschlossen, aber nicht alle von ihnen wirkten, als ob sie schliefen. Kuivato betrachtete nachdenklich die Zuhörer, die sich in seinem Blickfeld befanden. Er fühlte sich nicht sonderlich wohl. Dabei war alles so, wie es sonst auch immer war. Vorne stand der Redner und sagte, was er zu sagen hatte. Später würde der eine oder andere Zuhörer dafür oder dagegen sein, sich an einem unwichtigen Aspekt festbeißen oder sich zu etwas ganz anderem äußern. Die meisten würden überhaupt nichts sagen oder meinen, und wenn dann alles vorbei war, würden alle ein paar artige Worte sagen und nach Hause gehen - und es hätte sich überhaupt nichts geändert. Es lief immer alles so kraft- und freudlos ab. Es war eine richtig graue Stimmung. Und so würde es noch Jahre, ja Jahrzehnte und vielleicht Jahrhunderte weitergehen. Ja - das war es, weswegen er sich so unwohl fühlte. Es war die Trägheit, die Starrheit, die Unbeweglichkeit und die Laschheit um ihn herum, die ihn störte und die ihn einengte. Aber er konnte jetzt schlecht noch aufstehen und gehen - und ändern würde sich dabei auch nichts.

Einen Moment lang war Kuivato unschlüssig, doch dann sagte er sich, daß er eben das Beste aus der Situation machen müßte. Er schloß - was niemandem auffiel - die Augen und schaltete den Redner innerlich ab und beschäftigte sich mit diesen Gedanken, die ihm eben erst gekommen waren. Und er fragte sich, was er eigentlich wollte. Wenn er so nach Innen blickte, war klar, was er nicht wollte, nämlich die kleinkarierte, spießige Enge um ihn herum, und im Weitergehen verspürte er das Bedürfnis nach Weite und nach Klarheit und Licht. Und dieser Wunsch war, als ob er aus seiner Brustmitte entspränge und von dort aussstrahlte. Unwillkürlich weiteten sich seine Schultern, so daß er das Gefühl hatte, als wären sie mindestens doppelt so groß, und seine ganze Gestalt straffte sich und fühlte sich an wie eine aufwärts strebende Flamme. Ja, so fühlte er sich wohl; so würde er gerne leben, und so wünschte er sich die Atmosphäre im Saal. Die war aber ganz anders, denn der Redner hatte geendet und die Diskussion schien auch vorbei, denn die Leute brachen alle auf und rissen ihn aus seinen Träumen. So stand er auch auf und begab sich nach Hause.

In der Folgezeit versuchte er immer häufiger, wann immer ihm dies möglich war, dieses Gefühl, das seiner Natur so sehr entsprach, wieder hervorzurufen und es auszuweiten und zu verstärken. Schließlich brachte er es soweit, daß dieses anfangs vage Gefühl zu einer ständigen kraftvollen Gegenwart wurde. Etwas von diesem inneren Wandel drang wohl nach außen, denn die Menschen in seiner Umgebung sagten, daß er sich sehr zu seinen Gunsten verändert habe und suchten häufiger als früher den Kontakt zu ihm.

Kuivato liebte es, in den Bergen zu wandern, und eines Tages beschloß er, einen seiner Lieblingsplätze aufzusuchen. Es war ein hochgelegener Bergsee, denn außer ihm kaum jemand zu kennen schien, denn er war dort meist ganz ungestört. Er begann früh mit dem Aufstieg, und als er nach ein paar Stunden oben ankam, legte er sich erst einmal unter einen Baum, um auszuruhen. Der See war umgeben von Hängen, die um diese Jahreszeit von blühenden und duftenden Wiesen und Büschen bewachsen waren. Er hatte sich in einem kleinen, erloschenen Vulkankrater gebildet. Deswegen war das Ufer auch relativ steil und der Kiesstrand recht schmal. Nachdem er sich etwas ausgeruht hatte, zog er sich aus und ging zu diesem Strand hinunter. Dann stieg er langsam ins kalte Wasser und schwamm ein paar Runden. Schließlich ließ er sich auf dem Rücken liegend im Wasser treiben und schaute in den Himmel. Dort zogen träge ein paar Wölkchen dahin und zwischen ihnen sah er einen Adler fliegen, der wohl irgendwo an dem noch höher gelegenen Hauptvulkankegel seinen Horst hatte. Bedauernd schaute er dem Adler zu und wünschte sich, mit ihm zusammen fliegen zu können. Doch für einen erdgebundenen Menschen war dies wohl nicht möglich. Aber der Wunsch blieb.

Da es ihm jetzt langsam zu kühl im Wasser wurde, schwamm er zum Ufer und begann aus dem Wasser zu steigen. Dabei schaute er noch einmal nach oben und sah wieder den Adler über sich. Da hielt er inne und machte sich ganz weit und hoch und versuchte, sich so zu fühlen, wie man sich vielleicht fühlen würde, wenn man anstelle des Adlers dort oben fliegen würde. In seiner Brust fühlte er einen Zug nach oben. Er schloß die Augen, und plötzlich fühlte er, daß an seinem Rücken Flügel wuchsen, aber nicht klein anfangend und langsam größer werdend, sondern so, als ob sie schon lange da gewesen wären und nur darauf gewartet hätten, hervorbrechen zu dürfen. Sie entsprossen mit elementarer Wucht, erst ätherisch und kaum fühl- und sichtbar, dann schnell an Substanz gewinnend, seinem noch nassen Rücken. Eine bisher nur ansatzweise geahnte Freude durchströmte Kuivato, als er versuchsweise die mächtigen Schwingen bewegte. Dann hielt ihn nichts mehr im Wasser oder auf der Erde, und mit kräftigen, anfangs noch etwas ungeübten Bewegungen flog er der Sonne entgegen.

Jetzt fühlte er sich zum ersten Mal in seinem Leben frei. Er genoß es, in den wärmenden Strahlen der Sonne zusammen mit dem Adler, der ihn mißtraurisch beäugte, den großen Vulkankegel zu umrunden und das kleine Seeparadies und die tieferliegenden Landschaften von hoch oben zu betrachten. Dann zog es ihn höher, und er ließ Adler, Vulkan und Bergsee weit unter sich zurück und strebte mit kraftvollen Schlägen den Wolken zu. Freudig umrundete er die kleineren Wolken und nahm beim Durchfliegen der mittleren Wolken jedesmal eine prickelnde und erfrischende Dusche. Und als er dann hinter einer besonders großen und schönen Wolke nach oben tauchte, vergaß er vor Überraschung fast, mit den Schwingen zu schlagen.

Vor sich fand er eine Gesellschaft anmutiger Wesen, die entfernt so aussahen, wie er sich als kleiner Junge die Engel vorgestellt hatte. - Aber es waren wohl keine, denn sie waren allesamt nackt und ohne Nachthemd, und als sie sein verdutztes Gesicht sahen, brachen sie alle in Lachen aus - und von lachenden Engeln hatte er nun wirklich noch nie gehört. Diese Wesen sahen alle aus wie sehr große Menschen mit Flügeln; ja, so wie er wohl auch aussah. Aber es gab da ein paar Unterschiede: Ihr Körperbau war größer, aber zartgliedriger, die Haut schimmerte weißlich durchscheinend wie Perlmutt, und der Ausdruck jedes einzelnen Gesichtes war edler als alles, was er auf Erden gesehen hatte.

Was ihn aber noch mehr überraschte war die Tatsache, daß diese Wesen in der Wolke zu wohnen schienen. Er sah vereinzelt Gruppen zusammensitzen, manche gingen unter Wolkenarkaden spazieren oder nahmen ein Sonnen- oder Wolkenbad. Schließlich bedeutete ihm der wohl Wolkenälteste näherzukommen. "Setz dich zu uns", sagte er zu Kuivato. Dieser flog näher heran, aber mit dem Sich-setzen klappte es nicht so recht. Ehe Kuivato sich versach, war er durch die halbe Wolke gefallen - gefolgt von herzhaftem Gelächter. Er flog zurück, und der Älteste, der sich mit einem schlichten "Ich bin Sternenfunke" vorstellte, meinte, Kuivato habe wohl zuviel Erdenschwere, und erklärte ihm daraufhin, wie man so leicht wird, daß man sowohl auf der Wolke sitzen als auch, was besonders wichtig ist, über ihr in der Sonne schweben kann, denn auf diese Weise erhielten sie einen Teil ihrer Kraft und Lebensenergie. Nach mehreren Versuchen und viel Gelächter gelang es Kuivato schließlich, sich zu Sternenfunke zu setzen.

"Es ist noch nie vorgekommen, daß ein Erdbewohner uns in seinem Körper hier besucht", eröffnete Sternenfunke das Gespräch. "Eigentlich dachte ich immer, das sei nicht möglich. Die wenigen Menschen, die uns hier besuchen, tun dies im Traum oder in der Meditation und schöpfen hier im ewigen Licht der Sonne etwas Freude für ihren nächsten Tag. Es muß ein trauriges Los sein, auf der Erde zu leben!"

Kuivato dachte etwas nach (schließlich war die Situation für ihn doch etwas sehr ungewöhnlich) und antwortete dann: "Es ist wirklich schön hier und kein Vergleich zur Atmosphäre auf der Erde. Aber auch die Erde hat ihre Schönheit, Vielfalt und Wärme - und wohl auch ihren Sinn", fügte er nachdenklich hinzu. Und dann erzählte er ihm von den Düften und Farben der Blumen, von Schmetterlingen, Wasserfällen und von den Kunstwerken, die Menschenhände und -geister geschaffen hatten, vielleicht sogar in Erinnerung an die Träume in den Wolken, und die in ihrer Vielfalt hier heroben wohl völlig unbekannt sein dürften. Und zum Schluß sagte er, daß er, so schön es hier oben auch sei, doch die Welt, so unangenehm sie manchmal auch wäre, nicht wirklich missen wolle. "Weißt du", sagte Kuivato zu Sternenfunke, "am liebsten hätte ich beide Welten gleichzeitig!"

Sternenfunke antwortete: "Deine Erzählung hat mich tief berührt, und ich würde gerne etwas auf der Erde wandern, aber mein Volk kann genausowenig auf die Erde herabsteigen, wie dein Volk in die Wolken hinauf. So ist nun mal der Lauf der Dinge." Und dann erläuterte er Kuivato seine Aussage näher: "Der Lebensquell unseres Volkes ist Licht, Liebe und Reinheit, und das ist im Grunde genommen auch die Natur unserer Körper, weshalb wir auch in dem Zustand, der auf der Erde "Schlaf" genannt wird, nicht fallen können. Unser eigentliches Schwerkraftzentrum ist die Sonne. Die Erde ist schwer und dunkel, und das Leben auf ihr, soweit ich das von hier oben beobachten konnte überwiegend lieblos. Wenn wir uns ihr zu weit nähern, verschwindet das Licht in uns, unsere Herzen werden krank und unsere Körper schwer. Wir würden hinabfallen und sterben. Und bei den Menschen ist es umgekehrt. Ihre Natur besteht so sehr aus Dunkelheit und Schwere, daß sie ihren Blick noch nicht einmal auf den Horizont richten können, geschweige denn ihre Füße vom Boden lösen."

"Aber", wandte Kuivato ein, "das stimmt nicht ganz. Wohl herrschen Schwere und Dunkelheit in der menschlichen und irdischen Natur vor, aber es ist auch ein Licht in ihr, das, obzwar verborgen, doch ihr tieferes und eigentliches Wesen ist. Und", so fügte er hinzu, "ich konnte hier heraufkommen. Also ist die menschliche Natur wandelbar. Darüber hinaus kann ich, obwohl ich hierhergekommen und euch jetzt in der Natur zumindest etwas ähnlich bin, auch gewiß wieder zur Erde zurückkehren. Außerdem ist die Schöpfung EINS, so daß eure Substanz letztlich der gleichen Quelle entstammt wie die Erde. Also können deine Überlegungen nicht uneingeschränkt und für alle Zeiten gelten."

Sternenfunke überlegte etwas und mußte dann zugeben, daß an Kuivatos Einwand etwas Wahres dran war. "Warte ein wenig", sagte er schließlich, "ich werde den Rat der Wolkensegler einberufen und ihm die eingetretene Entwicklung darlegen." Dann stand er auf und schien etwas größer und erhabener zu werden, als er so kerzengerade dastand und sich der Sonne zuwandte. Und als er dann die Augen schloß, fing seine Gestalt an, leicht zu leuchten. Nachdem einige Zeit verstrichen war, erlosch das Leuchten und Sternenfunke öffnete wieder die Augen.

Dann richtete er folgende Worte, die eine neue Epoche in der Geschichte der Erde einleiten sollten, an den Besucher von der Erde: "Der Rat hat deine Argumente erwogen und ist zu dem Schluß gekommen, daß sie Dem Licht entspringen. Der Rat hat folgendes beschlossen: Kehre zur Erde zurück und besuche unser Volk, wann immer es dir möglich ist. Wir werden dich in die Geheimnisse des Lichtes einweihen, und du wirst uns die Mysterien der Materie bringen. Du wirst deinem Volk und in zunehmendem Maße auch der Natur und der Materie das Licht und die Reinheit und die Liebe bringen, die sie nach der Schöpfung vergessen haben und nach der sie sich in ihrem Innersten sehnen, und wir werden lernen, mit der Materie umzugehen."

Kuivato stand auf, verbeugte sich vor Sternenfunke und sagte feierlich: "So sei es!" Dann verabschiedete er sich und flog in die tieferen Regionen hinab, um den kleinen Bergsee zu suchen. Er landete auf einer duftenden Wiese, die noch im Sonnenlicht lag und wanderte langsam, sich des Grases unter seinen Füßen erfreuend zu der Stelle, wo er seine Kleidung abgelegt hatte. Nur als er sich anziehen wollte, merkte er, daß das mit den gewaltigen Flügeln gar nicht möglich war. Er überlegte ratlos, aber dann erinnerte er sich, wie es war, als die Flügel gewachsen waren und fand schließlich heraus, wie er die Schwingen soweit unstofflich machen konnte, daß es ihm möglich war, sich wieder anzuziehen. Jetzt sah die Flügel nur noch, wer auch mit den inneren Augen zu schauen vermochte.

Als er dann nach Hause zurückkehrte, sagten die Menschen immer wieder, daß es so wäre, als würde alles, was er berührte und der Boden, über den er schritt, heller als zuvor. Und ab und zu sah auch jemand Kuivatos Schwingen und sprach ihn darauf an. Dann erklärte Kuivato immer, was es damit auf sich hatte, und im Lauf der Zeit wanderten immer mehr geflügelte Menschen auf der Erde und die Erde selbst wurde immer heller und leichter. Und während der vielen Besuche von Menschen bei den Wolkenseglern lernten diese immer besser, mit der Materie umzugehen und sie zu verstehen, so daß sie sich der Erde immer weiter nähern konnten. Dadurch belebten immer mehr schöpferische Impulse die Erde, und als sich dann irgendwann beide Weltensphären berührten, veränderte sich die gesamte Kultur auf der Erde: die Architektur, die Malerei, die Dichtung, die Musik und die Lebensabläufe. Die Erde wurde zum Lebendigen Licht, das Leben war nicht mehr so starr an die Materie gebunden, es herrschte ein reges Kommen und Gehen zwischen der Erde und den Wolken, und die Luft war erfüllt von Sphärenklängen.

Und wer die Erde vom Weltraum her sah, dem erschien sie jetzt wie ein glitzernder und funkelnder Edelstein in der samtenen Schwärze des Weltenalls.

 

 

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