KRIEG UND SELBSTBESTIMMUNG

 

SCHLUSS MIT DEN KRIEGEN?

Der Fortschritt der Menschheit vollzieht sich mittels einer Reihe von Imaginationen, die der Wille der Menschheit in vollendete Tatsachen umwandelt, und mittels einer Folge von Illusionen, die jeweils eine unausweichliche Wahrheit enthalten. Die Wahrheit liegt im geheimen Willen und Wissen, die unsere Angelegenheiten für uns führen, und sie spiegelt sich in der Seele der Menschheit; die Illusion liegt in der Gestalt, die wir dieser Spiegelung geben, im Schleier willkürlicher Festlegungen von Zeit, Ort und Umstand, den der menschliche Intellekt, dieses trügerische Erkenntnisorgan, über das Antlitz der Wahrheit webt. Menschliche Imaginationen werden oft genau erfüllt; im Gegensatz dazu finden unsere Illusionen die dahinterstehende Wahrheit höchst unerwartet zu einer Zeit, auf eine Art und Weise und unter Umständen verwirklicht, die völlig anders sind, als wir sie festgelegt hatten.

Menschliche Illusionen gibt es in allen Arten und Größen, einige von ihnen sind klein, wenn auch nicht unwichtig ­ denn nichts auf der Welt ist unwichtig , andere gewaltig und grandios. Die größten sind die, die sich um die Hoffnung einer vollkommenen Gesellschaft, einer vervollkommneten Menschheit, ein Paradies auf Erden ranken. Jede neue Idee, sei sie religiös oder sozial, die sich der Epoche bemächtigt und große Menschenmassen ergreift, soll eine nach der andern das Instrument dieser hohen Erkenntnisse sein; und jede übt Verrat an der Hoffnung, die ihr die Kraft zum Sieg verliehen hat. Und der Grund ist recht einfach für alle, die sehen wollen; denn kein Ideenwandel und keine Änderung der intellektuellen Lebensauffassung, kein Glaube an Gott, Avatar oder Prophet, keine siegreiche Wissenschaft oder befreiende Philosophie, kein soziales Projekt oder System, keine innere oder äußere Apparatur kann dieses große in der Menschheit liegende Desiderat wirklich herbeiführen, auch wenn es an sich wahr ist und das Ziel anzeigt, zu dem wir geführt werden. Denn der Mensch selbst ist keine Maschine und kein Gerät, sondern ein lebendiges Wesen und dazu noch ein höchst kompliziertes, daher kann er nicht von Maschinen gerettet werden; nur ein vollständiger Wandel, der auf alle Glieder seines Wesens einwirkt, kann ihn von seiner Zwietracht und seinen Unvollkommenheiten befreien.

Eine mit dieser großen Hoffnung verbundene Illusion ist die Erwartung, daß es keine Kriege mehr geben wird. Dieses großartige Ereignis im menschlichen Fortschritt wird stets zuversichtlich erwartet, und da wir jetzt alle von wissenschaftlichem Geist erfüllte rationale Menschen sind, erwarten wir es nicht mehr vom göttlichen Eingreifen, sondern führen vernünftige naturwissenschaftliche und wirtschaftliche Gründe für den Glauben in uns an. Die erste Form, die dieses neue Evangelium annahm, war die Erwartung und die Prophezeiung, daß die Ausweitung des Handels die Auslöschung des Krieges bedeuten würde. Der Kaufmannsgeist war der natürliche Feind des Militarismus und würde ihn vom Angesicht der Erde vertreiben. Die zunehmende allgemeine Goldgier, die Gewohnheit des Komforts und die Bedürfnisse wachsender Produktion und komplizierten Handelsaustauschs würden Machtgelüste, Herrschaftsstreben, Ruhmgier und Kampflust zertreten. Das Verlangen nach Gold oder Waren würde den Landhunger austreiben, das Dharma des Vaishya würde seinen Fuß auf das Dharma des Kshatrya setzen und ihm einen schmerzlosen Garaus machen. Die ironische Antwort der Götter ließ nicht lange auf sich warten. Tatsache ist, daß gerade diese Herrschaft des Kaufmannsgeistes, dieses Wachstum von Produktion und Handelsaustausch, dieser Wunsch nach Handelsgütern und Märkten und dieses Auftürmen eines Riesenballastes unnötiger Bedürfnisse die Ursache für gut die Hälfte der Kriege war, die die Menschheit seither heimgesucht haben. Und nun sehen wir Militarismus und Kaufmannsgeist in liebender Umarmung zur einer geheiligten zweieinigen Dualität von nationalem Leben und patriotischer Sehnsucht verschmelzen und als Kriegstreiber den irrationalsten, ungeheuerlichsten und beinahe zum völligen Zusammenbruch führenden gewaltigsten Krieg der Neuzeit, ja aller Zeiten entfachen und schüren.

Eine weitere Illusion war, daß das Wachsen der Demokratie die Zunahme des Pazifismus und das Ende von Kriegen bedeuten würde. Man war so töricht zu glauben, daß Kriege ihrer Natur nach dynastisch und aristokratisch seien; gierige Könige und kriegerische Adlige, von Landhunger und Kampfesdurst getrieben, mit Menschenleben und Völkerschicksalen schachspielende Diplomaten ­ sie waren die schuldige Ursache des Krieges, der die unglücklichen Völker auf das Schlachtfeld trieb wie Schafe ins Schlachthaus. Diese Proletariate, bloßes Kanonenfutter, interesselos, wunschlos, ohne Kampfesdurst, der sie zum bewaffneten Konflikt drängen würde, brauchten nur unterwiesen zu werden und zu herrschen, um sich und die ganze Welt in freier und brüderlicher Freundschaft zu umarmen. Der Mensch lehnt es ab, aus jener Geschichte zu lernen, von deren Lehren uns die Erfahrenen schwatzen; sonst hätte die Geschichte der alten Demokratien genügen müssen, um gerade diese Illusion zu verhindern. Auf jeden Fall war die Antwort der Götter auch hier ironisch genug. Wenn Könige und Diplomaten immer noch häufig Kriegstreiber sind, dann ist niemand bereitwilliger und mit lauter Begeisterung ihr Komplize als die moderne Demokratie, ja wir sehen das moderne Schauspiel von Regierungen und Diplomaten, die erschreckt oder voller Zweifel vor dem gähnenden, tobenden Abgrund zaudern, während Völker mit wütendem Geschrei sie an den Rand treiben. Bestürzt und verstört sehen sich Pazifisten, die noch an ihren Grundsätzen und Illusionen festhalten, vom Volk niedergeschrien und, was besonders pikant ist, von denen, die eben noch ihre eigenen Gefährten und Führer waren. Der Sozialist, der Gewerkschaftler, der Internationalist von gestern ­ sie tragen das Banner allen voran in dem großen gegenseitigen Massaker, und ihre Stimme spornt die Kriegshunde am lautesten an.

Eine weitere neuere Illusion war, daß die Macht von Schiedsgerichtshöfen und europäischen "Konzerten" den Krieg verhindern könne. Auch hier wieder war der Lauf, den die Ereignisse sofort nahmen, ziemlich ironisch; denn der Einrichtung des großen Internationalen Schiedsgerichtshofes folgte eine Reihe kleiner und großer Kriege, die durch eine unerbittliche logische Kette zu dem schon lange befürchteten europäischen Konflikt führten, und der Monarch, der als erster den Gedanken zu dieser Einrichtung faßte, war auch der erste, der sein Schwert aus der Scheide zog in einem Konflikt, der auf beiden Seiten von höchst ungerechter Gier und Aggression diktiert wurde. In der Tat war diese Folge von Kriegen, ob sie nun in Nord- oder Südafrika, in der Mandschurei oder auf dem Balkan ausgefochten wurden, ganz auffallend von dem Geist gekennzeichnet, der zynisch gerade diesen Gedanken eines innewohnenden und bestehenden Rechts, dieses Gleichgewicht von Gesetz und Billigkeit ignoriert, auf das allein ein Schiedsgerichtsverfahren gegründet werden kann. Was das Europäische Konzert betrifft, so scheint es uns jetzt doch recht ferngerückt zu sein, es mutet in seiner Antiquiertheit fast vorsintflutlich an, weil es ja auch zu dem Zeitalter vor der Sintflut gehört; freilich können wir uns doch noch nur allzu gut daran erinnern, was für ein unmusikalisches und mißtönendes Konzert das war, was für eine Abfolge von Ungeschicklichkeiten und Stümpereien, und wie verhängnisvoll uns seine Diplomatie zu dem unausweichlichen Ereignis führte, gegen das es kämpfte. Jetzt wird von vielen vorgeschlagen, das ehemalige Konzert durch die Vereinigten Staaten von Europa zu ersetzen und anstelle des armseligen, hilflosen Haager Gerichts einen wirkungsvollen Gerichtshof für Völkerrecht einzurichten, der mit Rechtskraft ausgestattet ist, um seinen Entscheidungen Nachdruck zu verleihen. Solange die Menschen jedoch weiterhin an die souveräne Macht der Maschinen glauben, werden die Götter wahrscheinlich auch nicht mit ihrer absichtlichen Ironie aufhören.

Es gibt andere Theorien und Argumentationen; geniale Köpfe suchten nach einem festeren und rationaleren Glaubensgrund. Die erste dieser Theorien wurde in dem Buch eines russischen Schriftstellers vorgetragen, das seinerzeit ein großer Erfolg war, jetzt jedoch in Vergessenheit geraten ist. Die Wissenschaft sollte dem Krieg ein Ende bereiten, indem sie ihn physikalisch unmöglich machte. Es wurde mathematisch bewiesen, daß zwei gleich starke Armeen einander mit modernen Waffen bis zum Stillstand bekämpfen würden, ein Angriff würde unmöglich werden, es sei denn, er würde mit dreifacher Überlegenheit gegenüber der Verteidigung unternommen, und der Krieg würde daher keine militärische Entscheidung herbeiführen, sondern wäre nur eine sinnlose Umwälzung und Störung des geordneten Lebens der Völker. Als der Russisch-Japanische Krieg fast unmittelbar darauf bewies, daß Angriff und Sieg immer noch möglich waren und die Kampfeswut des Menschen dem Wüten seiner todbringenden Maschinen überlegen war, wurde noch ein Buch veröffentlicht mit einem Titel, der dem Verfasser unabsichtlich zu einem Witz geriet, die "Große Illusion". Hier sollte bewiesen werden, daß der Gedanke, durch Krieg und Eroberung kommerziellen Vorteil zu gewinnen, eine Illusion ist und daß, sobald dies verstanden und der einzige Gewinn friedlichen Handelsaustauschs erkannt wäre, die Völker auf eine Schlichtungsmethode verzichten würden, die sie jetzt hauptsächlich aus Gründen kommerzieller Expansion anwenden, deren verheerende Auswirkung aber nur die verhängnisvolle Zerrüttung des kommerziellen Wohlstands wäre, dem sie zu dienen suchte. Der gegenwärtige Krieg kam als unmittelbare Antwort der Götter auf diesen nüchternen und rationalen Vorschlag. Er wurde zum Zweck der Eroberung und der kommerziellen Expansion geführt, und es ist geplant, auch wenn er auf dem Schlachtfeld ausgefochten ist, ihm einen Handelskrieg zwischen den kriegführenden Nationen folgen zu lassen

Die Männer, die diese Bücher schrieben, waren fähige Denker, aber sie ließen das Eine, auf das es ankommt, außer acht, die menschliche Natur. Der gegenwärtige Krieg gab bis zu einem gewissen Grad dem russischen Schriftsteller recht, wenn auch durch Entwicklungen, die er nicht voraussah; die wissenschaftliche Kriegführung brachte das militärische Treiben zum Stillstand und verblüffte den Strategen und den Taktiker, sie machte entscheidende Siege unmöglich außer durch überwältigende Zahlen oder eine erdrückende Wucht der Artillerie. Doch sie machte nicht den Krieg unmöglich, sie änderte nur seinen Charakter; sie ersetzte allenfalls den Krieg der militärischen Entscheidungen durch den Krieg der militärischen und finanziellen Erschöpfung mit Hilfe der grausamen Waffe der Hungersnot. Auf der anderen Seite war der englische Verfasser im Irrtum, wenn er das wirtschaftliche Motiv als das einzig ausschlaggebende isoliert darstellte; er ließ die menschliche Gier nach Herrschaft und Einflußnahme unberücksichtigt, die in der Kaufmannssprache unangefochtene Kontrolle von Märkten und Ausbeutung hilfloser Bevölkerungen bedeutet. Ferner, wenn wir uns darauf verlassen, daß die Störung des geordneten nationalen und internationalen Lebens eine Vorbeugungsmaßnahme gegen den Krieg ist, vergessen wir die unbegrenzte Macht der Selbstanpassung des Menschen; dieses Vermögen zeigte sich recht eindrucksvoll in der Geschicklichkeit und Leichtigkeit, mit der die Ordnung und die Finanzen des Friedens in der gegenwärtigen Krise auf die des Krieges umgestellt wurden. Und wenn wir uns darauf verlassen, daß die Wissenschaft den Krieg unmöglich macht, vergessen wir, daß der wissenschaftliche Fortschritt eine Reihe von Überraschungen mit sich bringt und auch eine ständige Bemühung menschlicher Erfindungsgabe bedeutet, Unmögliches zu überwinden und neue Mittel zur Befriedigung unserer Gedanken, Wünsche und Instinkte zu entdecken. Die Wissenschaft kann den Krieg, wie er heute geführt wird ­ mit Kugel und Granate, Minen und Schlachtschiffen ­ zur Unmöglichkeit machen und doch noch einfachere bzw. konzentriertere Mittel entwickeln und an ihre Stelle setzen, die an eine leichtere Organisation der Kriegführung denken lassen.

Solange der Krieg nicht psychologisch unmöglich wird, wird er bleiben oder, falls für eine Weile verbannt, zurückkehren. Der Krieg selbst, so hofft man, wird den Krieg beenden; der Aufwand, das Grauen, die Schlächterei, die Störung ruhigen Lebens, der ganze verworrene, blutige Wahnsinn hat solche Riesenausmaße angenommen oder wird solche erreichen, daß die Menschheit die Ungeheuerlichkeit hinter sich werfen wird vor Überdruß und Ekel. Doch auf Ekel und Überdruß, Grauen und Mitleid läßt sich kein Haus bauen, und auch nicht darauf, daß uns durch die Erfahrungstatsache der Vergeudung menschlichen Lebens und menschlicher Energie, des Schadens und der Verschwendung die Augen geöffnet werden; diese Faktoren dauern nur, solange die Lektion noch frisch ist. Danach geraten sie in Vergessenheit; die menschliche Natur erholt sich und gewinnt die Instinkte zurück, die vorübergehend unter Kontrolle waren. Es ist denkbar, daß ein langer Friede, sogar eine gewisse Friedensordnung daraus hervorgeht, aber solange das Herz des Menschen so bleibt, wie es ist, wird der Friede nicht von Dauer sein; die Ordnung wird unter dem Druck der menschlichen Leidenschaften zusammenbrechen. Der Krieg ist vielleicht keine biologische Notwendigkeit mehr, aber er ist immer noch ein psychologisches Bedürfnis; was in uns ist, muß sich nach außen offenbaren.

Unterdessen ist es gut, daß jede falsche Hoffnung und jede zuversichtliche Prophezeiung so bald wie möglich ihre Antwort durch die Ironie der Götter erhält; denn nur so können wir zur Erkenntnis wirklicher Abhilfe gebracht werden. Nur wenn der Mensch nicht nur ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit allen Menschen, sondern auch einen entschiedenen Sinn für Einheit und volksmäßige Gemeinschaft entwickelt hat, nur wenn es ihm bewußt ist, daß sie nicht bloß seine Brüder sind ­ das ist ein zerbrechliches Band ­, sondern daß sie zu ihm gehören, nur wenn er es gelernt hat, nicht in seinem abgetrennten persönlichen und Gruppen-Egoismus zu leben, sondern in einem großen universellen Bewußtsein, kann das Phänomen des Krieges, mit welchen Waffen auch immer, aus seinem Leben verschwinden, ohne die Möglichkeit einer Rückkehr. In der Zwischenzeit ist es ein hervorragendes Zeichen, daß er sogar mit Illusionen auf dieses Ziel kämpfend zugeht; denn es zeigt, daß die Wahrheit, die hinter der Illusion steht, einen Druck auf die Stunde ausübt, in der sie als Wirklichkeit offenbar werden kann.


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