ÜBER MÄRCHEN

Vortrag anlässlich der Präsentation des Buches
"Flammenschritte"
auf dem Welt Literatur Fest in Mirapuri am 26.10.2003

Das Buch ist erhältlich über den Mirapuri-Verlag

Copyright: Anand Buchwald, eMail: anand@Mirapuri-Enterprises.com


Das Buch, das ich hier vorstellen möchte heißt „Flammenschritte“. Es enthält eine Sammlung von einfachen Märchen bzw. märchenhaften Geschichten, wie ich sie lieber nennen möchte.
Die Idee, Geschichten zu schreiben, die einen anderen Hintergrund und Ausdruck haben als die bekannten Märchen, führte zusammen mit der schöpferischen Mirapuri-Atmosphäre schließlich zu diesem Buch, das den Kindern Mirapuris und allen innerlich jungen Menschen dieser Welt gewidmet ist.
Märchen üben eine seltsame Faszination aus, obwohl sie, was den sprachlichen Ausdruck und die Komplexität der Handlung betrifft, eher anspruchslos sind. Der Inhalt ist meist der Sieg des Guten über das Böse, oder Belohnung für Wohlverhalten aller Art oder für Geschicklichkeit, Mut und Schläue. Diese Märchen haben ihre neuzeitliche Fortsetzung in Spielfilmen, und vor allem für Kinder auch in Videospielen, gefunden. Die Märchen und ihre heutigen Entsprechungen gefallen uns deshalb so, weil wir uns, ohne weiter darüber nachzudenken, ganz automatisch mit dem Guten und dem Sieger identifizieren. So wird der Sieg des Helden unser Sieg und verschafft damit auch uns ein Hochgefühl.
Mit dem Beginn der industriellen Revolution versuchten verschiedene Autoren das Ansehen und den Zauber von Märchen zu benutzen, um mit ihnen eine neue Botschaft zu verbreiten (was durchaus legitim ist) und auch Erzählungen zu schaffen, welche die Stimmung ihrer Zeit wiederspiegeln.
Diese Versuche waren in gewisser Weise auch erfolgreich. Autoren wie Hans Christian Andersen werden wegen der Beschreibung ihrer Zeit und Lebensumstände und der literarischen Qualität iher Erzählungen sehr geschätzt. Aber ich glaube, dass viele Kinder, ob sie das nun sagten oder nicht, diese Erzählungen in ihrem Innern nicht mochten, denn der Zweck von Märchen ist es, den Leser in eine bessere Welt zu entführen und nicht, Belehrungen über Gut und Böse zu erhalten oder mit einer dunklen und deprimierenden Realität konfrontiert zu werden.
Im Grunde genommen sind diese Märchen zwar für Kinder gedacht, aber eher für Intellektuelle sowie für Sozial- und Literaturkritiker geschrieben worden. Der Grund dafür liegt in einem Missverstehen der Natur von Märchen und ihrer eigentlichen Wirkung auf Leser und Zuhörer.
Märchen werden – von Jung und Alt – vornehmlich über Bilder aufgenommen. Damit sind nicht nur bildliche Darstellungen gemeint, sondern vor allem sprachliche, erzählte Bilder. Der Mensch zeichnet sich zwar vor allem dadurch aus, dass er ein denkendes Wesen ist, aber das Denken ist nur eine Funktion des Bewusstseins. Viele Bewusstseinsprozesse, und vor allem der Prozess der Wahrnehmung, laufen aber über Bilder und Beziehungen ab. Das heißt, alles was ins Bewusstsein dringt, wird in Bilder übersetzt, mit anderen Bildern abgeglichen und gegebenenfalls eingeordnet. Dadurch erklärt sich auch das Phänomen der Synästhetik, die z.B. einem Ton eine Farbe oder einen Geschmack zuordnen kann.
Märchen sind nun Geschichten, die besonders reich an Bildern sind. Diese Bilder zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich nicht so ohne Weiteres mit anderen Bildern abgleichen lassen, weil sie meist jenseits der alltäglichen Erfahrung und Bilderwelt angesiedelt sind. Das bedeutet, dass sie eine neues Element in das Bewusstsein bringen, weshalb Märchen und Erzählungen jeder Art von Real-Materialisten, den Nützlichkeitsdenkern, abgelehnt werden, da sie scheinbar nicht-reale Elemente, die eine Grundlage der Träume bilden, als neue Konzepte ins Bewusstsein einführen. Diese neuen Elemente bedeuten aber auch neue Beziehungen, neue Bezugspunkte und neue Blickwinkel, also Wachstum. Und Wachstum ist etwas, wonach jeder Mensch strebt, es ist ein Grundpfeiler unserer Natur und wurzelt wie jeder Grundpfeiler im Urgrund, der Seele.
Wachstum ist also immer ein Schritt auf unsere Seele zu. Und je unverfälschter, je ursprünglicher und unverführter ein Charakter ist, desto enthusiastischer strebt er der Seele zu, welche die ultimate Faszination ist. Und dieser Sense of Wonder verblasst leider bei steigendem Verführungsgrad.
Aber Bilder werden nur teilweise über das mentale Argumentativ-Bewusstsein wahrgenommen. Bilder sind wie Traubenzucker. Sie öffnen ohne große Umwege einen winzigen Zugang zur Seele, natürlich abhängig von der Bildqualität. Und da das in eingeschränktem Maße auch bei hochgradig Verführten der Fall ist, erfreut sich die Hollywood-Kultur, ein großer Verführer, bei sehr unterschiedlicher Qualität ihrer Produkte, steigender Beliebtheit, da diese Produkte helfen, die Verführung kurz zu durchbrechen.
Das heißt auch, dass Bilder nicht alle gleich sind. Sie haben eine sehr unterschiedliche Wirkung. Die Bildwelt der sozial-industriellen Märchen öffnet zwar den Zugang zum sozial-moralischen Bewusstsein, aber kaum jemals in die Welt der Freude, die durch die Seele verkörpert wird.
Ein Märchen sollte neben dem Aspekt der Spannung und vitalen Erregung Bilder zeigen, die Seelenzustände oder -eigenschaften ansprechen. In den alten Märchen waren dies Bilder von Glanz, Farbe, Reichtum, Gerechtigkeit, innerer Ordnung, Mut, Glück, Überwindung von Widerständen.
In den Flammenschritten habe ich einen ersten, bescheidenen Versuch unternommen, moderne Märchen zu schreiben, also Geschichten, die dem gewandelten Menschenbild und dem gewachsenen Bewusstseinspotential angemessen sind. Trotz höherer Verführung sind die Möglichkeiten des Seelenkontakts gewachsen. Moderne Märchen sollten also versuchen, die Seelenwahrheiten anzusprechen und zu fördern.
Mittel hierzu sind die Grundpfeiler unserer Natur, die ja in der Seele wurzeln.
Da ist zum einen der Pfeiler von Wachstum und Fortschritt. Ein Kind, das die ersten Schritte macht, freut sich darüber unbändig, und ebenso über jede weitere neue Errungenschaft und Entdeckung. Diese Entdeckungsfreude und den Fortschrittswillen zu fördern ist eine Aufgabe des modernen Märchens.
Wir haben schon gesehen, dass Märchen Bildquellen sind und dass ungewöhnliche Bilder zu neuen Bezugspunkten werden können. Das hört sich zwar schön an, aber die Sache hat noch einen tieferen Hintergrund. Sobald das Gehirn weit genug entwickelt ist, also noch im Mutterleib, beginnt eine zunehmende neuronale Vernetzung, das heißt, die Gehirnzellen gehen untereinander vielfältige neue Verbindungen ein. Bei jedem Lernprozess werden unzählige neue Verknüpfungen erstellt. Bei Erwachsenen nimmt dieser Prozess dann meist ab. Menschen, die in hohem Alter noch geistig rege sind, haben sich die Fähigkeit neue Verknüpfungen zu bilden, also zu lernen, noch in ausreichendem Maße bewahrt. Die Fähigkeit, Verknüpfungen zu bilden bleibt durch stetigen Gebrauch erhalten. Die Struktur eines neuronalen Netzes hat natürlich Auswirkungen. Je komplexer das Netz, desto mehr Beziehungen können hergestellt werden, d.h. man erkennt Zusammenhänge besser, versteht neue Dinge einfacher, hat mehr Fantasie und ist offener für neue Ideen.
Vor diesem Hintergrund wird auch ein Mangel der gängigen Schulsysteme deutlich. Die Unterteilung in isolierte Fächer fördert zwar die Vernetzung innerhalb eines Fachs, aber die einzelnen Vernetzungsschwerpunkte haben keine Verbindung zueinander; sie sind wie durch Gräben voneinander getrennt und bringen eine Insel-Mentalität hervor. Die Förderung einer großräumigen Vernetzung, eine Art übergreifende Infrastruktur im Denkwesen und eine integrierende Infrastruktur der einzelnen Wesensteile in sich und auch mit der Umgebung fehlt, mit der Folge, das Fragen und Probleme gerne isoliert betrachtet und auf immer die gleiche Weise gelöst werden, mit den bekannten Folgen.
Die fantastische Bilderwelt der Märchen liefert das, woran die gewöhnliche Welt arm ist: Neue Bezugspunkte. Diese gestatten es, Dinge mit neuen Augen zu sehen, neue Verknüpfungen herzustellen, und so Fortschritte zu machen. Einen Fortschritt macht man, wenn man – und sei es nur für sich selbst – Neues entdeckt. Und die großen wissenschaftlichen Fortschritte der Menschheit kamen kaum jemals durch Fleiß zustande, sondern vor allem dadurch, dass jemand die ausgetretenen Pfade der sogenannten Realität verlasen, etwas scheinbar unmögliches erträumt, und dann abseits des Bekannten eine größere Wirklichkeit entdeckt hat.
Diesen Entdeckergeist zu fördern, bedeutet Fortschritt und Wachstum.
Und die Bemühung um Wachstum und Entfaltung ist auch ein Teil des roten Fadens, der sich durch die Geschichten zieht, die in den Flammenschritten erzählt werden.
Ein weiteres Element der Märchen ist die Frage nach der Harmonie, die eine weiterer Grundpfeiler unserer Natur ist. Mit der Geburt wird man aus dem Einklang mit der Mutter und dem einfachen Sein in sich selbst gerissen und in ein Leben mit meist deutlich vermindertem Harmoniegehalt entlassen. Harmonie ist schön, warm und angenehm. Harmonie ist ein Teil des verlorenen Paradieses, das wir immer wieder zu erlangen suchen. Harmonie ist die Wahrheit der Seele. Bei Kindern ist die Erinnerung an diese ursprüngliche Harmonie noch nicht so tief ins Unterbewusste abgerutscht und noch nicht durch lange Jahre der Abstumpfung verschüttet. Sie reagieren, wie ein Seismograf, sehr empfindlich auf Erschütterungen der gering vorhandenen Harmoniesubstanz und sind regelrecht harmoniesüchtig.
Harmonie bedeutet aber nicht unbedingt Übereinstimmung in allen Fragen. Das Wesen der Harmonie ist anders geartet. Es gibt für jede Sache optimale Umstände, also die richtige Zeit, der richtige Ort, die richtige Art. Alles hat seinen Platz, und die Suche nach Harmonie ist wie eine Entdeckungsreise in die Natur der Dinge und des Seins.
Das Ende fast aller Märchen ist die Wiederherstellung einer verlorenen Harmonie oder zumindest die Schaffung größerer Harmonie. Durch die Kraft der Identifikation nimmt so auch der Leser Anteil an der erzielten Harmonie und findet wie durch einen Heilungsprozess wieder einen Zugang zu seiner eigenen Wesensharmonie. Die Geschichten der Flammenschritte sollen darüber hinaus anregen, selbst aktiv zu werden und bieten darum Anstöße für Entdeckungsreisen ins Reich der Harmonie.
Der dritte Grundpfeiler der menschlichen Natur ist das Streben nach dem Licht. Das Wort Licht ist nicht nur eine Metapher für Erkenntnis. Je mehr man die Zusammenhänge zwischen den Dingen versteht und Einblicke in das Wesen der Natur allen Seins gewinnt, desto weiter und umfassender wird das Weltbild, desto mehr verborgene Elemente treten ins Licht, desto klarer wird die Sicht.
Aber dies ist nur eine Form des Lichtes, das Licht der Wissens und der Erkenntnis. Doch es gibt noch ein zweites, eine inneres Licht, das durchaus nicht so symbolisch ist wie das Licht der Erkenntnis.
Wer genau hinsieht, kann manchmal bemerken, dass es auch ein Licht im Kopf, ein Licht im Herzen und sogar ein Licht im Körper gibt. Oftmals wird es erst, eher unbewusst, wahrgenommen, wenn eine Phase der Dunkelheit, des Trübsals oder der Krankheit weicht. Das innere Licht gehört zu unserer Natur und kann am besten wahrgenommen und auch vermehrt werden durch Freude, durch Fortschritt, durch Liebe und Harmonie, durch neue Ideen, durch dinge, die man zu einem guten Abschluss gebracht hat, aber auch durch geeignete Musik, Literatur, Bilder, Tanz...
Die Flammenschritte fordern dazu auf, die Welt neu zu betrachten, neue Perspektiven zu entwickeln, sich freudig auf das Abenteuer des Unbekannten einzulassen und neuen Möglichkeiten entgegenzufliegen und sich auf die Suche nach dem Licht zu machen.
Jeder Schritt vorwärts entfacht das innere Feuer, ist ein Flammenschritt, der seinen Abdruck in unserem Herzen hinterlässt.

Oktober 2003

 

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