NATUR, EVOLUTION UND HOMOSEXUALITÄT

Copyright: Anand Buchwald, eMail: chybrain@gmx.net und anand@Mirapuri-Enterprises.com

 

Ein Argument, das immer wieder angeführt wird, wenn gegen Homosexualität gewettert wird, sagt, sie sei "wider die Natur". Dieses Argument wird oft bemüht, wenn Schwulen nahegelegt wird, ihre Natur zu leugnen, wobei unterschwellig oft eine Aufforderung zum Selbstmord impliziert wird, denn schließlich ist man ja eine Fehlentwicklung. Warum gerade bekennende und vor allem militante und fanatische Christen dabei ihren zentralen Glaubensgrundsatz verleugnen, gehört wohl zu den großen Welträtseln (bei anderen Religionen ist es wahrscheinlich ähnlich - aber da kenne ich mich zu wenig aus). Wie dem auch sei - viele verwenden dieses Argument, aber wohl keiner von denen, die sich mit der Materie befasst haben.

Am leichtesten kann man dieses Argument natürlich durch biologisch-zoologisch-soziale Tatsachen widerlegen. Es gibt mehrere Untersuchungen zu Homosexualität im Reich der Tiere - und da ist es, rein wissenschaftlich gesehen, wohl so, dass die Homosexualität im Tierreich anscheinend eine regelmäßig vorkommende Erscheinung ist, wobei wohl die Tiere dieses speziell menschliche Stigmatisierungsverhalten nicht kennen. Da sind wohl die Tiere die besseren Menschen. Es gibt sogar Untersuchungen, die die Homosexualität als evolutiv sinnvolle Verhaltensweise erklären. Außerdem kann man sich natürlich fragen, warum die Natur die Homosexualität nicht schon längst wieder abgeschafft hat, wenn sie ihr so zuwiderläuft. Wenn man nun diese Hinweise und wissenschaftlichen Erkenntnisse anführt, so bleibt von dem "wider die Natur"-Argument eigentlich nichts mehr übrig. (Ganz nebenbei bemerkt könnte man natürlich, wenn man von einem oberflächlichen Naturverständnis aus - "Die Natur ist alles und hat immer recht" - argumentiert, mit Fug und Recht den Menschen an sich als Fehlentwicklung bezeichnen, die baldmöglichst vom Antlitz der Erde verschwinden sollte, damit die Natur wieder in ihren jungfräulichen Zustand zurückkehren kann.

Man kann diese Sache mit der Natur aber auch aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Wenn man etwas ablehnt oder verwirft, weil es "wider die Natur" ist, so liegt in dieser Ablehnung verborgen die Ansicht, dass die Natur besser ist als der Mensch, dass die Wege der Natur richtig sind und dass die Natur quasi Vorbildcharakter hat. Wenn der Mensch alles so macht, wie es ihm die Natur zeigt, findet er zu seinem Ursprung zurück und wird unauffälliger Teil des großen Ganzen.

Nun, wie sieht es in der Natur aus? Was machen die Tiere?

Tiere sind natürlich nicht zivilisiert, weil sie eben Tiere sind, und benutzen deswegen auch keine Kleidung und keine Toiletten. Sie laufen nackt herum und scheißen und pinkeln dahin, wo sie gerade stehen. Das wäre doch für die "wider die Natur"-Leute eine einfache erste Übung. Die naturverbundeneren Steinzeit-Menschen konnten das bestimmt auch noch.

Oder nehmen wir das männliche faunische Werbeverhalten. Wenn ein Männchen den Drang zum Sex verspürt, kann es schlecht nein sagen. Also macht es sich auf die Suche nach einem Weibchen. Da aber meistens mehrere Männchen gleichzeitig ein Weibchen begehren und das Weibchen meist nicht sehr entscheidungsfreudig ist, müssen die Männchen einander ausstechen (bisweilen blutig), und das Weibchen bekommt den Sieger. Schlussfolgerung für die Menschen: Die Männer versuchen gar nicht erst, die Frau, die ihnen ins Auge sticht, kennenzulernen und ihr näher zu kommen, sondern liefern sich eine Messerstecherei mit dem Rivalen. Wenn am Schluss einer überlebt oder keine Wunde hat, dann muss die Frau "Ja" zu ihm sagen. Sonst hat sie weiter nichts zu vermelden, sondern muss die Kinder großziehen.

Aber das ist so ein Fall, wo es dann schon anfängt, schwierig zu werden, bei der Entschlüsselung des Willens der Natur, denn manche Weibchen töten die Männchen nach der Begattung, manche vertreiben sie, manche Männchen verschwinden auch freiwillig, während andere sich an der Brutpflege beteiligen. Da wird es schon schwierig, eindeutige Rückschlüsse auf das "natürliche" Idealverhalten des Menschen zu ziehen.

Wenn man sich das ganze Durcheinander bzw. die ganze Vielfalt in der Natur so betrachtet, so wird wohl schnell klar, dass die vielzitierte Natur wohl kaum als Vorbild für den Menschen geeignet ist, und dass es so etwas wie ein "natürliches Verhalten" nicht gibt.

Es gibt eine artgemäßes Verhalten, das sich aber bei geänderten Umwelteinflüssen verändern kann. Innerhalb des art-typischen Verhaltens gibt es ein statistisches Verhalten, das in der sehr begrenzten Individualität der Tiere begründet liegt, also im Zusammenspiel von Erfahrung, Umwelt und Genetik. Je stärker die Individualität ausgeprägt ist, desto größer ist das Verhaltensspektrum. Bei Ameisen etwa kann man keine große Variabilität erwarten, bei Affen und Hunden schon.

Da der Mensch nun mal das individuellste Geschöpf auf Erden ist, ist auch sein Verhaltensspektrum am breitesten, gewissermaßen im Einklang mit den Entwickungslinien der Natur. Wenn man diesen Gedankengang weiterverfolgt, dann fällt einem vielleicht auf, dass diejenigen, die am lautesten im gerechten Zorn brüllen auch diejenigen sind, die am meisten gegen das sind, wofür sie brüllen. Denn was wollen die Leute, die gegen Schwule und Lesben sind, oder gegen politisch und religiös Andersgläubige, oder früher gegen die Langhaarigen...? Sie wollen die Kurve des statistischen Verhaltens eng und steil machen, indem sie von den Rändern ausgehend immer mehr Farben entfernen. Wenn es ihnen gelänge, Homosexualität aus der Gesellschaft zu entfernen (die Nazis haben es ja ausgiebig versucht, nicht nur bei den Schwulen), dann werden früher oder später all jene stigmatisiert und verfolgt, die beim Sex nicht die beliebte Missionarsstellung einnehmen, denn alles andere ist ja wohl "wider die Natur"...

In diesem Licht betrachtet, sind auch die ganzen Religions- und Glaubenskriege Ausdruck der Bemühung, die Weiterentwicklung der Menschheit zu verhindern, indem man die Symptome bekämpft. Das Symptom ist die Vielfalt, und die Vielfalt ist Ausdruck der Individualität. Individualität führt zu einem breiten Verhaltensspektrum, das so etwas wie ein Gradmesser der Evolution ist. Eine Eindämmung des Verhaltensspektrums ist also im Grunde genommen die Bemühung, eine Art Ameisenstaat zu schaffen (Die großen politischen Anstöße dazu sind alle wieder gestorben oder gestorben worden) und aus einer Evolution eine Involution zu machen.

 

Aber vielleicht sollte der Vorwurf gegen Schwule und Lesben ja gar nicht lauten, "wider die Natur", sondern "wider die Evolution"?

 

Wie bereits weiter vorn angeführt, ist auch dieses Argument nicht haltbar, da sich evolutive Vorteile aus der Homosexualität ergeben, ganz abgesehen davon, dass es keine Homosexualität in so breitem Rahmen gäbe, wenn sie die Evolution behindern würde. Ganz im Gegenteil wäre es - nebenbei bemerkt - im Moment eher hilfreich für das Überleben des Menschen, wenn Sie sich explosionsartig überall verbreiten würde, damit sich die irdische Gesamtbevölkerung im Laufe der Zeit auf ökologisch verträgliche Werte reduziert. (Und vielleicht wäre das Risiko neuer Kriege bei abnehmendem Konkurrenzinstinkt zwischen Männern geringer.)

Aber das nur am Rande. Viel interessanter ist der Standort der Homosexualität in der evolutiven Entwicklung des Menschen.

Werfen wir zuerst einen Blick auf das Verhältnis des Menschen zu seiner Evolution. Der Mensch weiß heute zwar aus der Forschung, dass es eine Evolution gibt, und dass er das Ergebnis einer evolutiven Entwicklung ist, aber das ist für ihn Vergangenheit, etwas, das ihn nicht betrifft. Für die allermeisten Menschen hört die Evolution spätestens mit ihrer Geburt auf. Evolution hat die Entwicklungslinien des Menschen und des Affen voneinander getrennt, den Urzeitmenschen, den Steinzeitmenschen und schließlich den Homo sapiens hervorgebracht. Punkt. Danach ging es nur noch darum, die nötigen Erfindungen zu machen, damit wir heute unser bequemes Leben führen können.

Wenn man einen Urzeitmenschen fragen könnte, wie er sich die Zukunft oder die Entwicklung der Urzeitmenschen vorstellt, würde er wahrscheinlich auf das größte, stärkste, schlaueste und vielleicht schönste Exemplar seiner Spezies deuten. Und das ist heute im Grunde genommen ganz genau so.

Die mögliche Entwicklung, die wir uns vorstellen können - und an der die Gen-Techniker auch schon arbeiten - ist Stärke, Gesundheit, Größe, Intelligenz und Schönheit in uniformer Reinkultur. Weiter reicht der Horizont nicht.

Warum auch? Der Mensch ist evolutiv im Grunde genommen abgeschlossen. Punkt.

Hingegen gibt es kaum Menschen, die sich Gedanken über die menschliche Evolutionslinie machen, von der biologischen Evolution bis zum jetzigen Zeitpunkt einmal abgesehen. Die Evolution verläuft aber auf mehreren Ebenen. Die physisch-biologische ist nur eine davon.

Wenn man sich die bisherige menschliche Evolution so betrachtet, scheint eine Sache deutlich zu werden: Die Entwicklung des Menschen ist geprägt von der Loslösung vom Tier.

Auf der biologischen Ebene bedeutet das die Entwicklung des aufrechten Gangs, eine Vergrößerung des Gehirnvolumens, eine Veränderung der Körperproportionen, verstärktes Größenwachstum, Verminderung der Behaarung, Ausformung eines zunehmend harmonischeren, schöneren und klareren Ausdrucks. Diese Entwicklung muss noch längst kein Ende gefunden haben. Dass wir seit dem Mittelalter immer größer werden, mag vielleicht damit zusammenhängen, dass wir unsere Lebensbedingungen immer weiter optimieren konnten und so die Möglichkeit haben, unser genetisches Potenzial auszuschöpfen. Aber wahrscheinlich findet auch parallel dazu eine Entwicklung statt, denn dass die Menschen immer schöner werden, wird kaum durch ein ausgeschöpftes genetisches Potenzial zu erklären sein. Für die Zukunft kann man wohl davon ausgehen, dass die Menschen zunehmend an Körperbehaarung verlieren und schöner und ausdrucksstärker werden, vielleicht auch androgyner. Vielleicht wird auch das Größenwachstum noch einiger Zeit weitergehen. Aber irgendwann werden die Entwicklungsmöglichkeiten, die die menschliche Form bietet, ausgeschöpft sein. Damit dann keine Stagnation erfolgt, müsste sich der Körper von Grund auf wandeln, wahrscheinlich in Richtung größerer Formbarkeit und Anpassungsfähigkeit, um mit der übrigen Entwicklung Schritt halten zu können, und nicht zur Belastung für das geistige, intellektuelle Wesen zu werden, denn die Evolution ist ja nicht nur eine biologische Angelegenheit.

Der biologische Körper ist belebt, und auch das Leben unterliegt der Evolution. Das Leben, das sind Lebenskraft, Instinkte und Antriebe.

Der neben Essen und Selbsterhaltung wichtigste Antrieb ist der Sex. War die sexuelle Betätigung beim Tier üblicherweise an die Fortpflanzungsfunktion und zum Teil auch an die Populationsstärke gebunden, so hat er bei unseren nächsten Verwandten bereits auch deutlich eine soziale Funktion, z.B. als Versöhnungszeremonie. Und beim Menschen hat er sich bereits sehr früh von der Fortpflanzungsfunktion gelöst und dient seither als Macht- und Vergnügungsinstrument. Übrigens gab und gibt es wahrscheinlich auch noch, immer Kulturen und Gegenden, wo der Zusammenhang zwischen Sex und Schwangerschaft unbekannt war.

Die Menschen, die Homosexualität als "wider die Natur" bezeichnen, fügen häufig noch hinzu, dass der Sex zur Fortpflanzung da sei, und darum nur zwischen Mann und Frau zulässig sei (ohne zu erläutern, was denn dagegen spricht, den Sex von der Fortpflanzung zu trennen). Dieses Argument bedeutet im Grunde genommen wieder den Aufruf zur Involution, zurück zum Tier. Aber die wenigsten von ihnen handeln nach ihrer Maxime. Denn das würde bedeuten: Sex nur in der Absicht, ein Kind zu zeugen, am besten ausschließlich an den erfolgversprechendsten Tagen, damit man nicht allzuviel Sex haben muss, und nach der Empfängnis keinen Sex mehr bis der nächste Kinderwunsch auftaucht. (Und dann gibt es da noch die große Frage: Was machen die Leute, die unfruchtbar sind, denn sie können ja nicht für sich in Anspruch nehmen, sich mit Kinderzeugung zu beschäftigen????)

In der Praxis sieht es aber wohl eher so aus, dass die Kinder in Kauf genommen werden, damit man schlechten Gewissens den eigentlich begehrten Sex haben kann. Aus dieser kirchlichen, nicht-christlichen Haltung heraus wird Verhütung abgelehnt und werden all jene verteufelt, die nicht den Schein erwecken, wenigstens ab und zu mal evtl. ein Kind in die Welt setzen zu wollen: die Schwulen und Lesben.

Sie zeigen immer wieder deutlich, dass Sex nicht nur dazu da ist, Kinder zu zeugen wie die Tiere, sondern vor allem um Spaß zu haben und gemeinsam mit anderen Menschen etwas schönes zu erleben.

Man kann den Themenkomplex Sexualität und Fortpflanzung aber auch durch die evolutive Brille betrachten. Beim Tier ist es so, dass die Population immer wieder durch natürliche Feinde reduziert wurde. Das nennt sich natürliches Gleichgewicht. In Australien ist das natürliche Gleichgewicht aus den Fugen geraten, nachdem Hasen ausgesetzt wurden, die dort keine natürlichen Feinde haben.

Beim Menschen verhält es sich mittlerweile ähnlich. Er hat keinen natürlichen Feind (außer vielleicht sich selbst) und wird immer erfolgreicher in der Technik, alle Faktoren auszuschalten, die zu einem frühzeitigen Tod führen. Die Folge ist Überbevölkerung und letztlich Selbstzerstörung.

Interessanterweise scheint es so, dass die höchsten Geburtenraten mit dem engsten Sexualbewusstsein und geringem Bildungsstand zusammenfallen. Es handelt sich um Länder, wo die Sexualaufklärung noch in den Kinderschuhen steckt und wo es keine halbwegs entwickelte, sicht- und erlebbare Sexualkultur gibt. Das Sexualleben spielt sich ab im Spannungsfeld von ungezügeltem und unbewusstem Triebleben und einer von Versteckspielen, Verdrängung und Tabuisierung geprägten repressiven Atmosphäre, Da das Ziel der menschlichen Evolution nicht Selbstauslöschung durch Überbevölkerung sein kann, kann man wohl davon ausgehen, dass die sexuelle Evolution in Richtung auf Reduzierung der Triebhaftigkeit, Kultivierung und Verfeinerung des Sexuallebens und die Entwicklung eines offenen, freudvollen und weiten Sexualbewusstseins hinauslaufen wird. Dazu gehört auch die Erforschung und Erkenntnis der Vielfalt von Wünschen, Regungen, Einstellungen und Neigungen.

Sex ist nicht nur das Rein-Raus-Spiel in Missionarsstellung. Das ist zwar die immer noch aktuelle Urform, modernisiert mit erweitertem Vorspiel und umfangreicherem Stellungsrepertoire, aber immer noch ausbau- und entwicklungsfähig. Im Sex steckt mehr als die Zeugung von Kindern.

Da ist etwa das Gefühl von Freude, das er vermittelt. Freude ist kein Gefühl, das direkt vom Orgasmus hervorgerufen wird, sondern es ist eine Begleiterscheinung. Freude hat den Charakter von Wärme, Weite, Offenheit. Sie entsteht aus dem Gefühl der Selbstvergessenheit und des Gebens, aber auch des Empfangens, und auch aus der Überwindung von Grenzen und der Ausweitung des Bewusstseins. Bei all dem kann Sex eine Hilfe sein - weniger der Völlerei-Sex als viel mehr der Gourmet-Sex. Und die evolutive Entwicklung des Sexverlangens und -ausdrucks weist in die Richtung Gourmet-Sex und sollte darum immer mehr von Dunkelheit befreit und mit bewusster Bemühung erfüllt werden. In der Sexualität steckt noch ein großes Potential, das darauf wartet, zum Erblühen gebracht zu werden: Kommunikation, Ausdruck von Gefühlen, Abbau von Spannungen, Energie-Austausch, Erlebnis und Erfahren des Anderen, Vermitteln von Nähe und Vertrauen, Bewusstseinsausweitung durch Vielfalt von Beziehungen, Aufnahmebereitschaft. Letztlich läuft die Entwicklung wohl auf die Überwindung der Abtrennung zwischen den Menschen hinaus, aber nicht in Richtung Rückfall in ein archaisches Horden-Bewusstsein, sondern in Richtung eines höheren Gemeinschafts-Bewusstseins. Und das heißt selbstverständlich nicht, dass ein Mann dieses Bewusstsein nur in Bezug auf Frauen entwickeln wird, denn das würde als Evolutionsrichtung das Fächerprinzip bedeuten: Ein Mann, viele auf ihn bezogene Frauen - und das Ganze als isolierte Kleingemeinschaft, wobei die Frauen für die Verknüpfung zwischen den vielen Kleingemeinschaften und den übrigen Männern zuständig wären. Davon träumen zwar viele Männer, aber dieser Traum würde bei Verwirklichung schnell zum Alptraum werden, denn in seiner Beziehungswelt würden plötzlich wesentliche Teile fehlen. Ein höheres Gemeinschaftsbewusstsein bedeutet eher die Verwirklichung des viel weiter reichenden, stabileren Netzprinzips, nach dem ja auch unser Gehirn aufgebaut ist: jeder mit jedem. Bis dahin ist aber noch viel Arbeit nötig, um veraltete Denk- und Verhaltensstrukturen aufzuweichen und ein freudvolles und spannungsloses Miteinander zu erreichen. Und wenn Homosexualität in einem realen Ausmaß im gesellschaftlichen und kulturellen Leben präsent wäre und ihre innewohnenden Möglichkeiten zum Ausdruck bringen könnte (nicht so isoliert wie jetzt), wäre das eine große Hilfe in der evolutiven Entwicklung.

Soviel zum Triebleben. Neben diesem gibt es in der niederen Natur des Menschen noch das Instinktleben. Wenn wir einen weiten Blick zurück bzw. in unsere weitere Verwandtschaft werfen, dann sehen wir bei der Frau natürlich die vorherrschende Mutterrolle, die Verteidigung des Nachwuchses und ein gewisser Zusammenhalt in der Frauengemeinschaft und eine eher soziale Neigung. Dieses Bild führt natürlich bei den Naturphilosophen und naturfesten Christen zu dem Spruch, dass Frauen hinter den Herd gehören und wohl auch zu einer vergleichsweise ignoranten Haltung bzgl. weiblicher Sexualität. Wenn man dieses Bild und die naturphilosophische Schlussfolgerung weiterspinnt, dann kommt Folgendes heraus: Der Mann geht mit anderen Männern zusammen auf die Jagd (wenn er nicht gerade Einzelkämpfer ist) und ist im Rahmen aggressiver gemeinschaftlicher Anstrengungen ein soziales Wesen und zur Zusammenarbeit fähig. Im übrigen Leben ist er sozial indifferent, wenn er sich nicht gerade einen höheren Platz in der Machthierarchie erbeißt. Und wenn es um den Sex geht, stellt er jede Zurückhaltung hintan. Da wird imponiert, was das Zeug hält, und jeder andere Mann sehr handgreiflich als Nebenbuhler betrachtet. Um also nicht "wider die Natur", sondern im Einklang mit ihr zu leben, muss der Mann also weiterhin sein unsoziales Wesen kultivieren, immer im Wettstreit mit den anderen Männern sein, immer deren Rivale - und falls es so ein Unding wie eine Freundschaft gibt, so muss sie spätestens dann - zumindest zeitweise - enden, wenn es um Geld, Macht oder Sex geht. So eine Lebensphilosophie wurde schon einmal sehr gefördert: im Dritten Reich. Und Homosexualität wurde und wird wohl auch darum so angefeindet, weil sie nicht in das angeborene bis anerzogene Instinktmuster in manchen Heteroköpfen passt. Sie ist ein so deutlicher Bruch in der Instinktnatur des Menschen, dass er wohl instinktbeherrschten Menschen Probleme bereitet.

Aber worin besteht dieser Bruch eigentlich? Ein Ausgangsmaterial der evolutiven Entwicklung ist die instinktive Rivalität vor allem zwischen den Männern. Im Laufe der Evolution wurde diese Rivalität aufgrund sozialer Notwendigkeiten eher verdrängt oder angeschirrt, als wirklich beseitigt. Sie hat sich als unerwünschtes Element zwar zurückentwickelt und ist sozusagen unter der Oberfläche verschwunden - unter den Teppich gekehrt. Unter dem evolutiven Druck hat eine soziale Entwicklung stattgefunden, eine soziale Evolution. Der Mensch hat die Fähigkeit zur Freundschaft entwickelt, für die es in der Naturphilosophie keinen richtigen Platz gibt. In den Beziehungen zwischen den Geschlechtern und unter dem Einfluss des Sexualinstinkts hat sich daraus die Liebe entwickelt, mal mehr, meist aber weniger rein. Da der Rivalitätsinstinkt aber unterschwellig immer noch einen deutlichen Einfluss ausübte, trat bei den gleichgeschlechtlichen Beziehungen so etwas wie eine Sperre oder eine Filterung auf, die nur instinktgerechte Emotionen durchließ, oder Emotionen instinktgerecht färbte - die Glorifizierung der berühmten Männerfreundschaft. Darum ist die gleichgeschlechtliche Beziehung, vor allem bei Männern, eine eher defizitäre Angelegenheit. Die Schwulen haben, zwar nicht in jedem Einzelfall, aber doch prinzipiell, dieses Defizit ausgeglichen. Sie zeigen durch ihre Existenz dem Durchschnittshetero, was als Potential in ihm schlummert, wo sein Bruch ist, über den er eine Brücke bauen muss, in welche Richtung die Entwicklungstendenz zeigt: die Wahrnehmung des Menschen als Mensch, statt als primär sexuelles Wesen.

Für diese Entwicklung muss aber auch die übrige Instinktnatur noch weiter abgebaut werden. Die Instinkte sind zwar noch vorhanden, aber schwach ausgeprägt. Sie sind im Laufe der Entwicklung immer stärker abgebaut worden, weil sie immer weniger benötigt wurden, vor allem wegen der geistigen Entwicklung. Man musste keinen Instinkt für essbare Dinge haben, sondern man wusste aus Erfahrung und Überlieferung, was essbar war. Und bei der Jagd nach gefährlichen Tieren etwa, war der Fluchtinstinkt u. U. störend bis gefährlich. Also verschwand der Instinkt zugunsten der mentalen Entwicklung bzw. wurde unter zunehmender Instinktkontrolle gestellt, die zuletzt immer stärker von den Religionen gefördert wurde. Da damit auch viele nützliche Erkenntnisfähigkeiten den Rückzug antraten, muss der Instinkt in der weiteren Entwicklung durch etwas Neues ersetzt werden. Und das ist vordergründig zuerst einmal der Geist, das Mental.

Um die Entwicklung des Mentalen einschätzen zu können, muss man sich nach dem Zweck des Mentalen fragen, das in der Natur im Grunde genommen einzigartig ist. Wir haben schon einen ersten Einblick in seine Rolle beim Instinktwesen bekommen. Das Instinktwesen gehörte zum unbewussten und unterbewussten Teil der menschlichen Natur. Die evolutive Entwicklung deutet auf eine Loslösung von den Niederungen der Natur hin. Das Mental ist ein Instrument, um das Un(ter)bewusste etwas in den Griff zu bekommen. Aber die Erkenntnisfähigkeit des Geistes ist etwas beschränkt, trotz aller naturwissenschaftlichen Erfolge. Darum kann das Mental kein Ersatz für des Instinktwesen sein. Wenn man sich das bildlich vorstellt, so befindet sich unten das Instinktwesen mit seinen un- und unterbewussten Auswüchsen, die in das Mental hineinreichen. Und von oben reichen in das Mental die Ausläufer des intuitiven Bereiches hinein. Da der Instinkt für den Menschen als Erkenntnisinstrument ungeeignet ist, und das normale Mental allein schon von seiner Kapazität her als Ersatz nicht ausreicht, muss die Entwicklung in der Intuition als höherer Erkenntnisform ihre Fortsetzung finden, wobei sich der Bewusstseinsschwerpunkt weiter nach oben verlagert, wie dies seit den Anfängen der Menschheit kontinuierlich geschieht. Alternativ gibt es für das Bewusstsein auch die Möglichkeit der Bewegung nach innen hin, zur Seele, seinem Verursacher, und zur Entfaltung des seelischen Wesens. Aber wahrscheinlich werden die Bewegungen zusammen ablaufen, da sie sich ergänzen. In jedem Fall aber wird das Mental mehr seine wahre Rolle einnehmen - die eines ausführenden Instruments.

Zur Rolle des Mentals bei diesem Übergang vom Instinkt- zum Intuitionswesen gibt es aber auch noch einen anderen Gesichtspunkt. Wie bereits angedeutet und auch ganz offensichtlich, führt die menschliche Entwicklung vom Tier weg. Der Tierwelt eigen ist ein gewisser Mangel an Individualismus, obschon ausgeprägter als in der Pflanzenwelt. Tiere sind stark eingebettet in eine Art Gruppenbewusstsein mit ritualistisch anmutenden Verhaltensmustern, starker Instinktgebundenheit und einer geringen Bandbreite an Individualität. Beim modernen Menschen tritt mit steigender mentaler Entwicklung die Einbettung ins Gruppenbewusstsein immer mehr in den Hintergrund, obwohl es bisweilen immer noch sehr leicht zu aktivieren ist, etwa bei Hitlers Massenveranstaltungen, bei demagogischen Inszenierungen, die Urinstinkte ansprechen, aber auch bei "harmlosen" Sportveranstaltungen. Statt dessen führt die Evolution, die "natürliche" Entwicklung, zur Ausprägung immer differenzierterer Persönlichkeitsmerkmale und in wachsendem Maße zur Formung eines wirklichen Einzelwesens, das dann später bewusst in eine ganz neue Art von Gruppenbewusstsein eintreten wird, das man jetzt vielleicht als bewusst oder erleuchtet oder potenzierend bezeichnen könnte. Nun, der Weg dahin ist vielleicht noch weit, aber er führt über die Bemühung, ein wirkliches Individuum zu werden, das wohlgeformt aus dem Sumpf des Un- und Unterbewussten aufsteigt, ihn trockenlegt und als fruchtbares Ackerland für reiche Ernte kultiviert, als sicheres Fundament für einen weiteren Aufstieg.

Mit anderen Worten heißt das, dass man mit dem Licht des Bewusstseins alle "natürlich" vorhandenen Teile der unteren Bewusstseinsschichten erforscht und diese nach Bedarf auslöscht, bearbeitet, transformiert und/oder integriert. Und das gleiche gilt für die vielen Persönlichkeiten und Persönlichkeitsbestandteile, die man beherbergt. Je reicher die Vielfalt, desto ausdrucksfähiger wird das Individuum werden, das daraus entsteht. Und bei den vielen daraus resultierenden Bewusstwerdungsprozessen wird man sich auch mit verschiedenen Persönlichkeits-Strings beschäftigen müssen, die mit der Sexualität zu tun haben.

Die Strings, die in der biologisch-evolutiv-instinktiven Natur des Menschen liegen, wurden schon kurz besprochen. Bleibt noch die mentale-soziale Natur. Die Bildung und der Ausdruck der Persönlichkeit erfolgen aus dem Zusammenspiel von Genetik, Umwelt und Seele. Da die Umwelt die Homosexualität weder stützt noch fördert, sondern eher ablehnt, bleiben als ihr Urgrund eine genetische Disposition und eine seelische Wahl oder Notwendigkeit; sie ist mit anderen Worten naturgegeben. Und darum ist sie auch nicht "heil-" oder "therapierbar", wie es von gewissenlosen Elementen gefordert, gefördert und versucht wird. Heterosexuelles Verhalten bei nicht dafür geschaffenen Menschen kann nur durch eine Art Gehirnwäsche herbeigeführt werden, was in sich schon ausreichend Hinweis auf die Sinnlosigkeit und den Unsinn solchen Unterfangens sein sollte.

Nun gibt es in der Natur für gewöhnlich keine scharfen Grenzen. Die scharfe Trennung von Gut und Böse, Schwarz und Weiß ist eine genauso menschliche Erfindung wie dies die Trennung in 90-95 % Hetero und 5-10 % Schwul ist. Die Wissenschaft hat schon lange entdeckt, wie die Natur funktioniert: statistisch. Das heißt, es gibt wenige Extreme am Rand und eine breiter werdende Vielfalt zur Mitte hin, üblicherweise eine sog. Gauss'sche Verteilungskurve. Das heißt, übertragbar auf die Sexuallage, dass man eine Handvoll Schwuler erwarten kann, eine Handvoll Heteros und eine große Mehrheit von Menschen, die beides in unterschiedlichen Anteilen in sich trägt. Diese Ansicht wird unterstützt durch viele psychologische Befragungen auf der einen Seite und durch wissenschaftliche Untersuchungen, die auf der anderen Seite eindrucksvoll eine alte Volksweisheit belegen: Je mehr jemand gegen etwas ist, desto mehr davon trägt er in sich. Im konkreten Fall gab es eine Untersuchung an Menschen, die zu antischwuler Gewalt neigen. Die Untersuchung kam zu dem Schluss, dass die Menschen, die am meisten aggressiv homophob waren auch die höchsten schwulen Persönlichkeitsanteile hatten, die auch überwiegend über dem Durchschnitt lagen.

Wenn man dies und die statistischen Standards zusammennimmt, dann sollte man zu folgenden Schlussfolgerungen kommen: Es gibt einen kleinen Anteil von Menschen, die keinerlei Probleme mit Schwulen haben. Diese sind entweder reinrassige Heterosexuelle, oder sie haben nur geringe schwule Anteile, oder ihr schwuler Anteil ist ihnen bewusst. Dann gibt es einen kleinen Anteil von Menschen, die reinrassig homosexuell sind, die dies auch wissen und sich entsprechend verhalten. Und es gibt eine große Masse von Menschen, die beide Verhaltensweisen in sich tragen, aber nur ihre heterosexuelle Ader zulassen.

Und dieser letzte Punkt sollte zu denken geben. Wir haben bisher eine natürliche Disposition, die nicht aus der Umwelt stammt und von dieser im Ausdruck nur äußerlich beeinträchtigt werden kann. Dabei wird aber immer verdrängt oder missachtet, dass die Umwelt sehr wohl einen deutlichen Einfluss auf die Ausprägung der Persönlichkeit hat, indem sie durch soziale Vorgaben unerwünschtes Verhalten behindert und erwünschtes fördert. Dies führt dazu, dass nur Menschen mit hoher Individualität oder einem hohen Anteil unerwünschter Verhaltensweisen ihre Natur gegen den sozialen Druck durchsetzen. Das heißt, dass viele der Menschen, die sich jetzt als Schwule oder Lesben "outen" entweder eine starke, individuelle Persönlichkeit sind oder mehr oder weniger reinrassig homosexuell oder beides zusammen. Wer hingegen ein schwache Natur hat oder geringe bis mittlere homosexuelle Anteile wird sein Mäntelchen nach dem Wind hängen und bewusst oder unbewusst den braven Familienvater spielen. Mitunter gibt es auch Fälle von Menschen, die nie über Homosexualität nachgedacht haben, die brav geheiratet haben, wie es von ihnen erwartet wurde und denen die Möglichkeit von Homosexualität nie so recht bewusst wurde, einfach deshalb, weil Homosexualität in ihrem sozialen und Medienumfeld nie ein wirkliches Thema war. Diese merken dann vielleicht als fünffacher Vater, was wirklich mit ihnen los ist und warum ihnen das Eheleben nie wirklich Freude machte. Zu diesem Zeitpunkt haben sie sich dann selbst unglücklich gemacht - und ihren Partner mit dazu.

Das was hier von der Gesellschaft praktiziert wird ist etwas, was ich "wider die Natur" nennen würde, eine Vergewaltigung der Natur des Menschen und seiner sich entwickelnden Persönlichkeit. Daraus lässt sich auch leicht ableiten, was notwendig ist, damit der Mensch in Übereinstimmung mit seiner inneren Natur und damit auch halbwegs glücklich lebt: Zum einen sollen Schule und Erziehung nicht auf einen braven, uniformen, phantasiearmen Befehlsempfänger hinarbeiten, sondern jeden Einzelnen ermutigen, seine individuelle Persönlichkeit voll zur Blüte zu bringen und nicht nachzulassen in der Bemühung, immer ehrlicher sich selbst gegenüber zu werden. (Dies ist übrigens auch eine Notwendigkeit, wenn immer mehr Mneschen mit immer weniger Platz auskommen müssen, denn wer sich selbst versteht und mit sich selbst im Reinen ist, versteht auch seinen Mitmenschen besser - was meines Erachtens übrigens der zentrale Punkt des Christentums und eine Ableitung des Gebots der Nächstenliebe ist.)

Unterstützt wird dieser Punkt durch die zweite Notwendigkeit: Verstärkte schwule und lesbische Präsenz in allen Medien, nicht speziell herausgehoben, sondern als Selbstverständlichkeit. Dies mag zwar Naserümpfen bei denen bewirken, die schon zu alt sind, um Dinge neu zu überdenken - was bisweilen schon in der Pubertät der Fall ist -, aber für den Selbstfindungs- und Entwicklungsprozess wie auch für den sozialen Frieden der nachwachsenden Generationen wären schwule und lesbische Vorbilder eine große Hilfe. Jeder könnte ohne Angst und ganz selbstverständlich seine homo- wie heterosexuellen Anteile entfalten und leben und könnte den Anderen ohne Naserümpfen oder missionarischen Eifer akzeptieren. Der Umgang miteinander würde intimer, hilfsbereiter, menschlicher werden, und Konkurrenzdenken könnte wachsender Zusammenarbeit Platz machen. Und manche Fähigkeiten würden nicht zusammen mit den sexuellen Neigungen unterdrückt werden. Dazu müsste auch die Sexualität als solche aus ihrem Schatten- und Schmuddeldasein als selbstverständlicher Bestandteil des menschlichen Lebens, über den man auch so locker und frei reden kann, wie über das Frühstück, in das Licht des Bewusstseins gehoben werden.

Wenn wir nun nochmals auf den Evolutionsgedanken zurückkommen, so sind wir jetzt nicht nur bei der Evolution des Bewusstseins angelangt - denn Ehrlichkeit, die Suche nach der Wahrheit und das Licht-Machen in den Tiefen des Unterbewussten sind notwendige Stufen der weiteren Evolution - sondern auch bei der bislang wenig beachteten sozialen Evolution, die mit der Bewusstseinsevolution Hand in Hand geht. Steigender Individualismus und zunehmend komplexere Persönlichkeitsstrukturen müssen einhergehen mit einem inneren Zusammenwachsen der menschlichen Gemeinschaft. Das ist eine unvermeidliche Stufe sozialer Evolution. Wir können diese Aufgabe der Natur überlassen und noch viele tausend Jahre warten - wenn wir solange überleben - oder Sache selbst in die Hand nehmen.

Bei diesen ganzen Betrachtungen ist, zumindest vordergründig, ein Aspekt der Thematik nicht aufgetaucht. Wir haben bisher die Evolution vom Tier zum Menschen, von der Biologie bis zum Sozialwesen betrachtet. Das ist der Bereich, in dem gemeinhin argumentiert wird. Der eigentlich wichtigste Aspekt, der verborgen die menschliche Evolution trägt, ist die Entwicklung des Seelischen und ihrer höchsten Ausdrucksform, der Liebe.

Wenn wir der Entwicklung unter diesem Aspekt noch einmal von den menschlichen Anfängen her folgen, können wir ein etwas vollständigeres Bild gewinnen. Da es keine Zeugnisse aus vorgeschichtlicher Zeit gibt, können wir nur mit Annäherungen und Interpolationen arbeiten.

Da der vorgeschichtliche Urmensch der Tier noch sehr nahe stand, kann man wohl davon ausgehen, dass die urmenschlichen Beziehungen fast ausschließlich instinktgeprägt waren. Das heißt, dass Sex vor allem instinkt- und pheromongeleitet war und die Partnerwahl mehr genetischen Gesichtspunkten folgte, als gefühlvollen.

Das Verhältnis von Instinkt und Gefühl (oder Tier und Seele) verschob sich in Richtung Gefühl, wobei die einsetzende mentale Entwicklung oft genug dazwischen funkte. So haben in geschichtlicher Zeit über sehr weite Strecken hinweg die Eltern aus überwiegend mentalen und machtpolitischen Gründen Ehen arrangiert. Und auch wenn in der jüngeren Geschichte (so etwa die letzten Jahrtausende) von stürmischen und heißen Affären die Rede ist, so drängt sich fast immer das Bild von sexueller Leidenschaft und heißem Verlangen auf. Von zarten Liebesbanden und tiefen, anhaltenden Gefühlen wird eher selten erzählt. Und auch heute noch gebräuchliche Ausdrücke für den Sex (lieben, Liebe machen) deuten darauf hin, dass Liebe und guter Sex früher synonym waren - und in breiten Bevölkerungskreisen noch heute sind. Dieses langsame Auftauchen der Liebe spiegelt sich auch ein wenig in den Religionen wieder. Waren die alten Religionen noch mehr von der Regulation des tierischen Erbes, vom Gehorsamsgedanken und praktischen Regelungen der Beziehungen (Rechte, Pflichten) geprägt, so hat der Buddhismus schon das Mitgefühl als einen zentralen Punkt, während das nachfolgende Christentum die Nächstenliebe in den Mittelpunkt stellt, wenn auch nur bedingt erfolgreich.

Mittlerweile stehen wir am Anfang eines neuen Jahrtausends, und die Idee oder Empfindung der Liebe (eine seelische Qualität) findet in immer mehr Herzen Eingang, und wenn man die Entwicklung etwa des letzten Jahrtausends betrachtet, könnte man sagen, dass dies explosionsartig geschieht.

Nun sind Sex und Liebe - auch wenn sie immer noch oft synonym genannt werden - verschiedene Dinge. Sex ist seinem Wesen nach Ausdruck der Instinktnatur, und Liebe ist ein Ausdruck der Seele, und man kann sehr wohl das Eine ohne das Andere haben. Zwar wird Sex wohl eher selten zur Liebe führen (wohl aber zu Verständnis, wenn man genügend Bewusstsein entwickelt), aber als Quell von Freude und Vergnügen hat er seine eigene Berechtigung. Liebe führt hingegen häufiger zum Sex, denn sie kann sich in ihm auf der körperlichen Ebene ausdrücken (was auch durch soziale Formationen unterstützt und gefördert wird) und in sich begrenztem Maße dem Anderen mitteilen.

Die Liebe ist der Ausdruck der Seele. In der Evolution hat die Seele daran gearbeitet, sich von den Fesseln des tierischen Erbes zu befreien, und ihre eigene Natur, die eigentliche Natur des Menschen, als Grundlage für seine weitere Entwicklung zu entfalten. Man kann also sagen, dass Liebe die innere Natur des Menschen ist.

Wenn man aber sagt, ein Mann darf nur seine Frau lieben und umgekehrt, dann beschränkt man den Menschen in seiner Natur und auf seine biologische Funktion. Und vor allem denen, die sich Christen nennen (sei es religiös oder politisch gemeint) sei eines gesagt: Die zentrale Aussage des Christentums heißt: Liebe deinen Nächsten. (Das schließt das buddhistische Mitgefühl für alle Wesen bereits ein.) Wer auch immer liebt, ganz gleich wen, drückt in dieser Liebe den christlichen Gedanken und seine Seele aus. Und wer auch immer versucht, einen Anderen von der Liebe und ihrem Ausdruck abzuhalten, handelt unchristlich. Es ist nicht wichtig, wer beschließt, mit wem ins Bett zu gehen; von Wert ist die Empfindung der Liebe und ihr Ausdruck.

Damit ist das Gebot der Nächstenliebe aber noch nicht erfüllt. Es gibt nicht nur einen Nächsten, es gibt deren mittlerweile 6 Milliarden.

Ein Charakterzug der Seele und der Liebe ist die Weite. Wer liebt, möchte die ganze Welt umarmen. Aber Brauchtum, Gewohnheit, Formationen und Gesetze und die Kleinfamilien-Isolation sowie Eifersucht behindern dies.

So gesehen ist das Gebot der Nächstenliebe ein wichtiger Programmpunkt für die gesellschaftliche und soziale Evolution im anbrechenden Jahrtausend. Der Mensch wird im Ausdruck seiner Liebe freier und reicher werden, weniger gebunden an überkommende Normen und mit dem Drang zur Bildung größerer Gemeinschaften als den kleinen 3-Personen-Haushalt.

11.10.99

 

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