HERAKLIT

 

Kapitel II

 

Was ist nun eigentlich das Leitmotiv von Heraklits Denken, wo liegt sein Ausgangspunkt bzw. welches sind die großen Linien seiner Philosophie? Denn wenn sich sein Denken auch nicht in der strengen systematischen Ordnung späterer Denker entwickelte, wenn es auch nicht im reichen Strömen scharfsinniger Argumentation und üppiger Metaphorik zu uns kommt wie bei Plato, sondern in einzelnen abgetrennten, wie Pfeile auf die Wahrheit gerichteten aphoristischen Sätzen, so besteht es doch nicht eigentlich aus verstreuten philosophischen Reflexionen. Diese Sätze sind aufeinander bezogen und voneinander abhängig; sie alle gehen logisch von seiner Grundansicht des Daseins selbst aus und kehren zu ihrer ständigen Rechtfertigung wieder dahin zurück.

Wie in der indischen, so war auch in der griechischen Philosophie die erste Frage, die sich dem Denken stellte, das Problem des Einen und des Vielen. Uberall sehen wir eine Vielheit von Dingen und Wesen; besteht sie wirklich oder nur scheinbar oder faktisch, maya, vyavahara? Hat zum Beispiel der Einzelmensch ­ und das ist die Frage, die uns am meisten angeht ­, eine eigene, wesenhafte und unsterbliche Existenz oder ist er bloß ein erscheinungshaftes, vorübergehendes Produkt der Evolution oder die Spielerei eines Urprinzips ­ Materie, Geist oder Spirit ­, das die einzig wahre Wirklichkeit des Daseins ist? Gibt es überhaupt Einheit und, wenn ja, ist es die Einheit einer Summe oder eines uranfänglichen Prinzips, ein Produkt oder ein Ursprung, ein Einssein der Gesamtheit, ein Einssein der Natur oder ein Einssein der Substanz ­ die verschiedenen Standpunkte des Pluralismus, des Sankhya und des Vedanta? Oder, wenn sowohl das Eine als auch das Viele wirklich sind, welche Beziehungen gibt es zwischen diesen beiden ewigen Prinzipien des Seins oder sind sie in einem Absoluten jenseits davon versöhnt? Das sind keine trockenen logischen Probleme, kein Kampf im Nebel metaphysischer Abstraktionen, wie der praktische, sinnenhafte Mensch uns verächtlich glauben machen will; denn von unserer Antwort hängt unsere Vorstellung von Gott, vom Dasein, von der Welt und vom menschlichen Leben und Geschick ab.

Heraklit glaubte, daß sowohl Einheit als auch Vielheit wirklich seien und gleichzeitig bestünden; darin unterscheidet er sich, so erinnert uns Mr. Ranade, von Anaximander, der dem Vielen wie unsere Mayavedis wahre Realität abspricht, und von Empedokles, der glaubte, das Alles sei abwechselnd eins und vieles. Das Dasein ist also ewig eines und ewig vieles ­ zu diesem Schluß gelangten auch Ramanuja und Madhwa, wenngleich in einem ganz anderen Geist und aus ganz anderer Sicht. Heraklits Auffassung entsprang seiner starken, konkreten Intuition von den Dingen, seinem Scharfblick für universale Wirklichkeiten; denn unsere Erfahrung des Kosmos zeigt uns immer und untrennbar dieses ewige Nebeneinander, dem wir in der Tat nicht entrinnen können. Unser Blick auf das Viele offenbart uns überall eine ewige Einheit, gleich welches Prinzip wir dieser Einheit zuordnen; und doch ist die Einheit nur durch die Vielheit ihrer Mächte und Formen wirksam, und wir sehen sie nirgendwo ohne ihre eigene Vielheit und getrennt von ihr. Eine Materie, aber viele Atome, Plasmen, Körper; eine Energie, aber viele Kräfte; ein Geist oder wenigstens Geist-Stoff, aber viele geistige Wesen; ein Spirit, aber viele Seelen. Vielleicht geht diese Vielheit periodisch zurück, wird in das Eine, aus dem sie sich ursprünglich herausentwickelte, aufgelöst und von ihm verschlungen; und doch zwingt uns die Tatsache, daß sie sich herausentwickelte und wieder hineingewickelt wird, die Möglichkeit und sogar die Notwendigkeit ihrer erneuten Herausentwicklung anzunehmen: Die Vielheit wird also nicht wirklich zerstört. Der Adwaiti geht in seinem Yoga zurück auf das Eine, fühlt sich mit dem Einen verschmolzen, er glaubt, daß er von dem Vielen befreit sei, möglicherweise dessen Unwirklichkeit bewiesen habe; aber es ist die Leistung eines Einzelnen, eines aus dem Vielen, und das Viele lebt dessenungeachtet weiter. Die Leistung beweist nur, daß es eine Bewußtseinsebene gibt, auf der die Seele durch den Intellekt die Einheit des Spirits verwirklichen und nicht bloß wahrnehmen kann, mehr wird nicht bewiesen. Daher legt sich Heraklit auf diese Wahrheit der ewigen Einheit und der ewigen Vielheit fest und bleibt dort verankert; er nimmt sie entschlossen, mit allen Konsequenzen an, ohne sie wegzuargumentieren; und aus dieser Anerkennung entspringt seine ganze übrige Philosophie.

Doch es bleibt noch eine Frage zu lösen, ehe wir einen Schritt weitergehen können. Da es ein ewiges Eines gibt, was ist es? Ist es Kraft, Geist, Materie, Seele? Oder ist es, da ja die Materie viele Prinzipien hat, ein Materieprinzip, aus dem sich alle übrigen entwickelten oder das sich kraft seiner eigenen Tätigkeit in all das verwandelte, was wir sehen? Die alten griechischen Denker stellten sich die kosmische Substanz als aus vier Elementen bestehend vor, wobei sie das fünfte wegließen oder noch nicht kannten, den Äther, in dem die indische Analyse das erste Urprinzip entdeckte. Auf der Suche nach dem Wesen der Ursubstanz entschieden sie sich dann für das eine oder andere dieser vier als uranfängliche Natur; der eine erkannte sie in der Luft, der andere im Wasser, während Heraklit, wie wir gesehen haben, Ursprung und Wirklichkeit aller Dinge als ewig-lebendiges Feuer beschreibt oder versinnbildlicht. "Kein Mensch oder Gott", sagt er, "hat das Weltall erschaffen, sondern das ewig-lebendige Feuer war, ist und wird immer sein, unaufhörlich."

In den Veden, in der frühen Sprache der Mystiker überhaupt, wurden die Namen der Elemente oder Urprinzipien der Substanz mit einer klaren symbolischen Bedeutung verwendet. So wird im Rigveda ständig das Symbol des Wassers benutzt. Am Anfang soll der unbewußte Ozean gewesen sein, aus dem das Eine durch die Unermeßlichkeit Seiner Energie geboren wurde; doch aus der Sprache der Hymne wird klar, daß kein physischer Ozean gemeint ist, sondern das ungeformte Chaos des unbewußten Seins, wo das Göttliche, die Gottheit in einer Finsternis verborgen lag, die von noch größerer Finsternis umhüllt war. Die sieben aktiven Prinzipien des Seienden werden ähnlich als Flüsse oder Wasser angesprochen; wir hören von den sieben Flüssen, dem großen Wasser, den vier höheren Flüssen in einem Kontext, der ihre symbolische Bedeutung zeigt. Dieses Bild sehen wir im puranischen Mythos von Vishnu festgehalten, der auf der Schlange Unendlich im Milchozean schläft. Doch schon in der Frühzeit des Rigveda ist der Äther das höchste Symbol des Unendlichen, des ápeiron der Griechen; Wasser ist das höchste Symbol desselben Unendlichen in seinem Aspekt als Ursubstanz; Feuer ist die Schöpfermacht, die aktive Energie des Unendlichen; Luft, das Lebensprinzip, gilt als Bringer des Feuers aus den Ätherhimmeln zur Erde herab. Doch dies waren nicht bloße Symbole. Die vedischen Mystiker waren mit Sicherheit der Ansicht, daß eine enge Verbindung und ein wirksamer Parallelismus zwischen psychischer und physischer Tätigkeit, zwischen dem Wirken des Lichts etwa und den Erscheinungen geistiger Erleuchtung bestehe; Feuer war für sie zugleich die lichte göttliche Energie, der Seher-Wille der universalen Gottheit, aktiv und schöpferisch die substantiellen Formen des Weltalls hervorbringend und geheimnisvoll in allem Leben brennend.

Es ist fraglich, inwieweit die frühen griechischen philosophischen Denker irgendeine dieser komplexen Vorstellungen in ihren allgemeinen Sätzen über das Urprinzip bewahrten. Doch geht Heraklits Gedanke des ewig-lebendigen Feuers zweifellos über die Vorstellung der physischen Substanz oder Energie hinaus. Feuer ist für ihn gleichsam der physische Aspekt einer großen, brennenden schöpferischen Gestaltungs- und Zerstörungskraft, deren Prozesse in ihrer Gesamtheit ein ständiger, unaufhörlicher Wandel sind. Der Gedanke von dem Einen, das ewig Vieles wird, und von dem Vielen, das ewig Eines wird, und daß daher das Eine nicht so sehr eine stabile Substanz oder Essenz ist als eine aktive Kraft, eine Art substantieller Wille zum Werden, das ist die Grundlage von Heraklits Philosophie.

Nietzsche, den Mr. Ranade zu Recht mit Heraklit in Verbindung bringt, Nietzsche, der lebendigste, konkreteste und anregendste moderne Denker, wie Heraklit es bei den frühen Griechen ist, gründete seine ganze philosophische Gedankenwelt auf diese Konzeption des Lebens als eines gewaltigen Willens zum Werden und der Welt als eines Kräftespiels; göttliche Macht war für ihn das schöpferische Wort, der Beginn aller Dinge und das Ziel, zu dem alles Leben hinstrebt. Doch bejaht er nur das Werden und schließt das Sein aus seiner Anschauung aus; daher ist seine Philosophie letztlich unbefriedigend, unzureichend und einseitig; sie stimuliert, bringt aber keine Lösung. Heraklit schließt das Sein von den Tatsachen des Lebensproblems nicht aus, wenn er auch zwischen Sein und Werden keinen Gegensatz und keine Kluft schaffen will. Mit seiner Konzeption, nach der das Dasein zugleich eines und vieles ist, muß er diese beiden Aspekte seines ewig-lebendigen Feuers zwangsläufig als gleichzeitig wahr, als eins im andern wahr akzeptieren; Sein ist ewiges Werden, und doch löst sich das Werden in ewiges Sein auf. Alles ist im Fluß, denn alles ist sich wandelndes Werden; wir können nicht zweimal in dasselbe Wasser steigen, denn es ist ein anderes und immer wieder ein anderes, das weiterfließt. Und doch, so sehr ihm dieser Aspekt des Daseins am Herzen lag, konnte er mit seinem scharfen Blick für die Wahrheit der Dinge nicht anders, als noch eine andere Wahrheit dahinter zu erkennen. Das Wasser, in das wir steigen, ist dasselbe und doch nicht dasselbe; unser eigenes Dasein ist eine Ewigkeit und ein unbeständiger Durchgang; wir sind und sind nicht. Heraklit löst den Widerspruch nicht auf; er läßt ihn so stehen und versucht auf seine Weise, Rechenschaft über dessen Prozeß zu geben.

Diesen Prozeß sieht er als ständigen Wandel, als ein Sichzurückverwandeln, als Austausch und Aufeinanderfolge in einem beständigen Ganzen ­ das sich im übrigen durch einen Zusammenprall von Kräften, durch entscheidenden schöpferischen Streit, durch "Krieg, den Vater und König aller Dinge" organisiert. Zwischen Feuer als dem Sein und Feuer im Werden beschreibt das Dasein eine absteigende und aufsteigende Kurve ­ pravritti und nivritti ­, die der ,,zurückkehrende Weg" genannt wurde, auf dem sich alles bewegt. Dies sind die Hauptgedanken in Heraklits Denken.


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